Anekdote mit Manfred Stolpe 26.03.2020
Geht doch!
Manfred Stolpe war in der DDR Konsistorialpräsident der Landeskirche Berlin-Brandenburg und hatte als Kirchenjurist einen Ruf, der seines Gleichen suchte. Der Bischof der Landeskirche und alle Mitarbeiter im Konsistorium (Kirchenleitung) und in den Gemeinden sahen in ihm ein strahlendes Juwel und hatte hohe Achtung vor dem, was er sagte. Es war auch immer klug und wohl überlegt, was er sprach und es gab selten jemanden, der nicht seiner Meinung war. In die Organisation und in den Ablauf der Synoden (Kirchenversammlung) der Landeskirche war er als Kirchenjurist fest eingebunden und hatte viel Arbeit. Gisela Bartel war als Krankenschwester in Lehnin tätig und von ihrerm Kirchenkreis Lehnin als Synodale (Delegierte zur Kirchenversammlung) für zwei Legislaturperioden von 1985 -1990 in die Landessynode gewählt worden. Die Arbeit der Synodalen wurde in der DDR als gesellschaftliche Arbeit anerkannt und das Krankenhaus stellte sie für den Zeitraum der Synode frei, ohne dass die Tage auf ihren Jahresurlaub angerechnet wurden. Die Synode der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg fand im Stephanusstift in Berlin-Weissensse statt. Die Arbeit in der Synode war für Gisela Bartel ein großes Privileg. Sie hatte Freude daran und sie konnte echte demokratische Strukturen kennenlernen, die es sonst in der DDR nicht gab.
Während einer Tagung der Synode trat der Konsistorialpräsident Manfred Stolpe an sie heran und bat sie an einem Abend zum Abschluss des Tages die Abendandacht zu übernehmen. Sie wehrte sich gegen diese Aufgabe, konnte sich aber gegen den Konsistorialpräsidenten nicht recht durchsetzen. Sie war ja ein Laie und hatte Angst vor den Bischöfen, Generalsuperintendenten, Theologen, Gemeindepädagogen und kirchlichen Mitarbeitern zu sprechen. Aber im Gesangbuch der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg fand sie viele Texte für eine Andacht und so meisterte sie mit zitternden Knien diese Aufgabe. Zum Schluss der Andacht sang sie mit allen Synodalen das Lied:
Abend ward, bald kommt die Nacht,
schlafen geht die Welt;
denn sei weiß es ist die Wacht
über ihr bestellt.
Einer wacht und trägt allein
ihre Müh und Plag,
der lässt keinen einsam sein,
weder Nacht noch Tag.
Jesu Christ, mein Hort und Halt,
dein gedenk ich nun,
tu mit Bitten dir Gewalt:
Bleib bei meinem Ruhn.
Wenn dein Aug ob meinem wacht,
wenn dein Trost mir frommt,
weiß ich, dass auf gute Nacht
guter Morgen kommt.
Die Synodalen waren begeistert, denn natürlich konnte Gisela Bartel Andachten halten. Der Konsistorialrat Manfred Stolpe hatte ihre Ablehnung wohl bemerkt, hatte aber auch ihre Fähigkeiten sofort erkannt. Nach der Andacht kam er kurz zu ihr und meinte: "Na, geht doch."
Copyright: Gisela Bartel, Rathenow 26.03.2020