Geblieben sind zwei Eiben von Martin Manns 2010
Geblieben sind zwei Eiben.
Einführung von Martin Manns, Rathenow
Genau 65 Jahre nach der Einnahme Rathenows durch die sowjetische Armee, die mit der fast totalen Zerstörung der Innenstadt verbunden war, äußerte sich eine weitere Zeitzeugin und schildert ihre damit verbundenen persönlichen Erlebnisse.
Die nachfolgende Veröffentlichung ihrer Schilderung erfolgt mit ihrer Genehmigung.
Frau Ursula Thielscher geb. Haase (Jahrgang 1931) ist das einzige noch lebende Mitglied der Familie Haase, die unter der Anschrift „Forststraße 4“ eine Fabrik für Sehhilfen aus Horn,
Zelluloid u. ä. Materialien betrieb.
Abb. 1
(Ausschnitt vom Kopfbogen der Firma)
Ihre Großeltern Heinrich und Klara Haase, als Firmengründer, wohnten in ihrer, etwa 1924 von Dr. Brohm erworbenen Villa in der Dunckerstraße 26. Hier wuchsen auch deren drei Söhne Reinhold, Richard und Heinrich auf.
Villa von Heinrich Haase
Rathenow, Dunckerstr. 26
Die Haaseschen Grundstücke waren von der Dunckerstraße bis zur Forststraße durchgesteckt, und die Fabrik befand sich im Hofraum des Hauses Forststraße 4.
Zu Weiterführendem in der Firmengeschichte sowie zu den Kurzbiographien der Haases verweise ich auf die Broschüre „Grabstätten der Gründer und Inhaber von optischen und artverwandten Unternehmen in Rathenow“, erschienen 2008 im Eigenverlag.
Die Villa wurde bei den Kampfhandlungen stark in Mitleidenschaft gezogen. Nach der Beseitigung der schlimmsten Schäden beherbergte sie u. a. den Kreisvorstand der LDPD,
wurde dann aber zur Errichtung des Wohnblockes Berliner Straße 61 - 63, als Bestandteil der Neubebauung des Areals, abgerissen.
Abriß der Villa
Im Garten der Villa befanden sich auch zwei Eiben, die als Naturdenkmal noch heute existieren und so die Örtlichkeit markieren. Diese stattlichen Bäume sind, abgesehen vom Grabmal auf dem Evangelischen Friedhof, gegenständlich das Einzige, das in Rathenow an
„Horn - Haases“ erinnert.
Zwei Eiben haben die Zerstörungen überstanden
2010
Nachfolgend wird der erschütternde Erlebnisbericht der Tochter von Richard Haase wörtlich wiedergegeben. Möge seine Veröffentlichung einen Beitrag dafür leisten, daß sich Derartiges nicht wiederholt.
Ursula Thielscher, geborenen Haase
(*08.04.1931 - † 09.04.2020)
Erinnernungen von Ursula Thielscher an Rathenow 2010
Den Krieg hatten wir in den ersten Jahren relativ gut überstanden. Die Bomben, die auf Rathenow im April 1944 gefallen waren, hatten uns nicht getroffen. Lediglich der Bruder meines Vaters, Reinhold Haase und seine Frau Lisbeth geb. Kluge verloren ihre Wohnung im Haus Forststraße 38 (Holzhändler Ludwig Arndt gehörend). Sie zogen danach zu meiner Großmutter in die Haase-Villa, Dunckerstraße 26, neben der Klinik von Dr. Wilhelm Reinke.
Uns traf das Schicksal dann superhart im April / Mai 1945.
Mein Vater, der im Ersten Weltkrieg freiwilliger Soldat gewesen war, und in diesem Zweiten Weltkrieg nicht eingezogen wurde, mußte sich nach dem Feindalarm am 25,04.1945 beim Volkssturm melden, dessen „Oberster “der Direktor der Fa. Emil Busch, Paul Seeland, war.
Wir nahmen das Luftschutzgepäck, das immer bereit stand, und gingen in den Keller in der
Bahnhofstraße 33. Meine Eltern hatten da im Hause Materne (Lebensmittelgeschäft) in der
ersten Etage eine sehr schöne Vierzimmer-Wohnung. Nach mehreren Stunden kam auch mein Vater dorthin zurück und berichtete von vielen grausamen Taten. U. a. erfuhren wir,
daß die Russen Herrn Pastor Feist erschossen hatten, der uns vis-à-vis in der Friedrich-Lange-Straße 4 (Haus der Kirchengemeinde) gewohnt hatte. Auf dem großen dazwischen
liegenden Hof hatten die Russen eine Stalinorgel aufgebaut, im Haus gingen sie ein und aus, in unserer Wohnung machten sie Zechgelage, die Getränke holten sie aus dem Lager der Fa. Lübke (Getränkehandel) Bahnhofstraße 31. Nach zwei Tagen und Nächten, am 27.4.1945, bekamen wir den Befehl, das Haus in Richtung Bamme, Gräningen zu verlassen.
Mein Vater hatte zu diesem Zeitpunkt einen Furunkel im Nackenbereich, der hätte ärztlich behandelt werden müssen, aber in diesem grauenvollen Durcheinander war das unmöglich.
Viele Menschen, besonders Ältere, so auch der gute Nachbar in der Dunckerstraße,
Dr. Reinke, hatten sich das Leben genommen oder waren gen Westen gezogen, z. B. meine Schulfreundin Inge mit ihren Eltern: Dr. Scheffler, Dunckerstraße 8.
Alle Bewohner der Bahnhofstraße 33 nahmen das Nötigste, Maternes hatten Pferd und Wagen, wir einen Fahrradanhänger, und zogen los über tote Menschen, tote Pferde, bei Beschuß und Regen. Als wir in Gräningen ankamen, waren schon Hunderte Rathenower dort, die Kirche mit Menschen überbelegt. Wir, etwa 20 Personen, kamen in einer kleinen
Stube bei Landarbeitern unter. Später wurden wir in dem Pferdestall des Gutes, Tag und Nacht stehend, untergebracht. Und meinem Vater ging es täglich schlechter. Unter den vielen Menschen fanden wir schließlich eine Ärztin der Lungenheilstätte. Sie schnitt den Furunkel mit einer Rasierklinge auf, natürlich ohne Desinfektion, ohne Verbandsmittel. Das konnte nicht gut gehen in diesem Chaos ohne Sauberkeit / Seelennot!
Am 8. Mai 1945 – Kriegsende, über Rathenow lag eine riesige schwarze Rauchwolke. Mein Vater hatte Fieber, konnte kaum laufen, aber wir wollten unbedingt zurück. Haben es mühsam geschafft und fanden nur noch Trümmer vor.
Erste Hilfe bot uns, den etwa 20 Menschen des total zerstörten Hauses Bahnhofstraße 33,
Frau Henke, die Besitzerin des Hotels Fürstenhof. Ihr Haus stand noch, aber die Russen verwüsteten alles darin. Die Gästezimmer hatten keine Türen mehr, die Betten waren zerschlagen, Inletts aufgeschlitzt, die Federn flogen durch das Haus. So verschanzten wir uns alle in ihrem großen Wohnzimmer.
Meine Mutter und ich machten uns dann mit meinem todkranken Vater im Fahrradanhänger
auf den Weg, ärztliche Hilfe zu bekommen. Die Straßen der Innenstadt waren kaum zu passieren, alle voller Schutt. Auf dem Grundstück Dunckerstraße 26, durchgehend bis zur Forststraße 4, fanden wir zwischen den zerstörten Gebäuden verstört, unter den noch heute vorhandenen zwei Eiben (Naturschutz) sitzend, meine Großmutter Klara Haase geb. Rock, ihren Bruder Karl Rock und seine Frau Martha.
Vor dem Krankenhaus wurden wir von bewaffneten Russen vertrieben. Erfuhren dann, dass als einzige Apotheke die „Altstädtische“ erhalten geblieben war und schöpften Hoffnung. Leider vergebens, die Medikamente lagen meterhoch verstreut auf dem Boden. Fragten nach einem Arzt, erfuhren dort aber, daß außer der Kinderärztin, Frau Dr. Seichter, wohl kein Arzt mehr in Rathenow war. Also zogen wir wieder Richtung Paradeplatz, Berliner Straße, wo einst die Praxis gewesen war. Alles zerstört – keine Ärztin zu finden. Auf dem Rückweg
trafen wir die uns verzweifelt suchende Tante meiner Mutter, Frau Hedwig Döbbelin.
Sie war mit ihrem Mann Robert bei entfernten Verwandten, der Fam. W. Köhler, in der Derfflingerstraße 17 untergekommen. (Köhler war Inhaber der Fa. Umlauf & Mehlan.) Die Wohnung von Döbbelins im Haus Klaus-von-Bredow-Straße 1 war von Russen besetzt.
Tante Hede Döbbelin nahm uns mit zur Fam. Köhler, wir wurden herzlich und liebevoll empfangen, und mein Vater, durch das hohe Fieber schon fast bewußtlos, konnte sich endlich in ein Bett legen. Am 13. Mai 1945 morgens um 6 Uhr ist er dort an Sepsis (Blutvergiftung) gestorben. Einen Sarg gab es nicht. Meine Mutter nähte graue Luftschutzdecken um ihn, per Handwagen brachte man ihn zum Friedhof und beerdigte ihn auf der Grabstelle bei seinem 1940 verstorbenen Vater, meinem Großvater Heinrich Haase.
Nach diesen schrecklichen nie zu vergessenen Erlebnissen verließen meine Mutter und ich im Oktober 1945 Rathenow und zogen in den Geburtsort meiner Mutter nach Witzenhausen in Nordhessen.
Trotz alledem liebe ich meine Heimatstadt Rathenow bis heute sehr, weil ich dort eine wunderschöne Kindheit erlebt habe – vor diesem grauenvollen Ende.
Ursula Thielscher geb. Haase
Pattensen, 24.4.2010