Biografie von Ernst Lindner (*30.11.1873 - † 05.03.1953)
Ernst Hugo August Lindner wurde am 30.11.1873 in Graudenz (heute Polen) geboren.
Graudenz
Biografie von Ernst Linder
Es war eine raue Winternacht, als Ernst Hugo August Lindner am Sonntag, den 30.11.1873, um 10:45 Uhr in dem 15.000 Einwohner zählenden Landstädtchen Graudenz an der Weichsel geboren wurde. Der einzige Bruder seines Vaters August Lindner wohnte in Bromberg und das war der Anlass, dass die Eltern zu Ehren des Onkels und Taufpaten auch ihrem Sohn den Vornamen August gaben.
Der Vater
Sein Vater, Johannes Friedrich Lindner, war ein angesehener Kaufmann in Graudenz. Er war am 23.04.1831 in Groß-Peterwitz, Kreis Rosenberg, in Westpreußen, als Sohn des Lehrers und Organisten Johann Jakob Lindner geboren worden. Er wuchs mit seinem älteren Bruder August Lindner auf, der am 09.09.1829 geboren worden war. Da die Mutter Caroline Lindner, geborene Schulz, am 23.12.1935 starb, wurde die beiden Söhne bald zu Vollwaisen, denn auch der Vater starb am 30.06.1844. Während sein Bruder August Lindner schon in Bromberg eine Lehre bei seinem Vetter aufgenommen hatte, kam Johannes Lindner zum Superintendenten Jackstein in Freystadt in Westpreußen. Er erhielt dort eine exzellente Ausbildung, die besonders seine musikalischen Begabungen förderte. So ist es nicht verwunderlich, dass der Vater dafür sorgte, dass Ernst Lindner Klavierunterricht erhielt. Sein Vater hielt alle Kinder an, ein Instrument zu spielen und Ernst Lindner musste jeden Sonntag auf dem geliebten Blüthner-Flügel einen Choral spielen. Dann las der Vater las einen Abschnitt aus der Bibel vor. Es war eine kleine Hausandacht, bei der jedes Mal auch ein anderes Kind ein Gebet sprechen musste. Ernst Lindner liebte sein ganzes Leben lang Kirchenkonzerte und besuchte auch fleißig die Aufführungen der Matthäus-Passion, der Missa solemnis, von Oratorien oder Requien. Ernst Lindner meint, dass diese musikalische Begabung von seinen Vorfahren aus Salzburg komme, die 1732 vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. in dem von der Pest verödeten Landstrich Preußen angesiedelt wurden. Sein Vater kam nach der Einsegnung durch den Superintendenten Jackstedt als Lehrling zu seinem Vetter Johann Lindner nach Bromberg. Der Vetter hatte ein Kolonial- und Materialwarengeschäft. Es gab keinen Urlaub, keine geregelten Öffnungszeiten und keine Heizung. Das Geschäft war praktisch die ganze Woche geöffnet auch sonntags. Wasserträger brachten das Trinkwasser ins Haus. Eine Kanalisation kannte man nicht. Nach dem Ende der Lehre gab ihm sein Vetter Johann Linder einen Kredit über 4500 Taler, womit er das Grundstück in Graudenz kaufte und dort selbst ein Kolonialwarengeschäft 1856 eröffnete. Zwei Vorgänger hatten mangels Erfolgs wieder aufgeben müssen, aber der Vater von Ernst Lindner hatte Glück. Das Amtsgericht und die Post wurden in seiner Nähe neu errichtet und so blühte sein Handel auf. 1858 heiratete er Marie Kiszio, die am 23.08.1859 die Tochter Marie geboren hatte, aber bald darauf starb. Er heiratete daraufhin eine Frau Birckmann aus Graudenz, die aber an Kindbettfieber starb und kurz darauf ihr neu geborener Sohn Maximilian. Am 12.03.1863 heiratete der Vater Antonie Burandt, die der kleinen Marie eine liebevolle Mutter wurde. Sie passte gut zum Vater, der eher etwas zart und kränklich war. Er hatte einen empfindlichen Magen. Er fuhr auch mehrmals zur Kur nach Karlsbad, Franzensbad und Marienbad. Seine Frau Antonie war die Starke in der Ehe. Sie schenkte ihm fünf Kinder, die alle zu brauchbaren und tüchtigen Menschen heranwuchsen. Am 12.02.1864 wurde der Bruder Arthur, am 17.04.1865 der Bruder Paul, am 23.01.1870 die Schwester Hedwig und am 20.05.1878 die Schwester Helene geboren. Nach der Eheschließung richtete der Vater für die Familie seiner Frau ein Trikotagengeschäft in Graudenz ein, das die unverheiratet gebliebenen Schwestern der Mutter, Olga und Hedwig, mit großen Erfolg führten. Nach dem Tode der Schwestern konnten 50.000,00 Mark an die anderen Geschwister ausgezahlt werden. Der Vater war ein ernster und manchmal auch ein strenger Mann. Er hatte sich durch Fleiß und Sparsamkeit eine angesehene Stellung in der Graudenzer Gesellschaft geschaffen, die ihn auch bewegte, Gelder zu sammeln für ein Deutsches Theater und die Herrichtung eines Salzmagazins. Der Vater verkaufte das Kolonialwarengeschäft 1875 und zog am 01.04.1881 nach Danzig. Dort feierte er mit seiner Frau 1888 die Silberhochzeit.
Die Mutter
Die Mutter von Ernst Lindner, Antonie (Toni) Bertha Clara Lindner, geborene Burandt, gehörte zu den Nachfahren der französischen Refugiés, die nach dem Edikt von Nantes Frankreich verlassen mussten und in Preußen Asyl erhielten. Die Großmutter von Ernst Lindner. Amalie Burandt, geborene Pickardt, war eine tüchtige Frau. Nachdem ihr Mann früh gestorben war zog sie die 13 Kinder allein groß. Ihre älteste Tochter Antonie musste früh mit im Haushalt und bei der Versorgung ihrer Geschwister helfen. Die Großmutter hatte Zimmer an reiche Bauernsöhne aus der Umgebung, die eine Ausbildung in Graudenz absolvierten, vermietet und ließ sich von den reichen Bauern in Naturalien bezahlen. So kam es auch oft vor, dass die Bauernfamilien die Großmutter einluden und sie nahm immer einen Enkel mit. Ernst Lindner erinnert sich, wie er mit der Großmutter das erste Mal nach Groß Neudorf an der Weichsel kam und mit Staunen die wohlgenährten Viehherden, die Scharen von Gänsen, Enten und Hühnern sowie wagenradgroße Käselaiber, die nach Holländer Art hergestellt wurden, sah.
Die Kindheit in Graudenz
Ernst Lindner wuchs mit den drei älteren Geschwistern Arthur, Paul und Hedchen (Hedwig) auf. An der Ecke der Amtsstraße/Marienwerder Straße bewohnte die Familie ein Geschäftshaus. Im Erdgeschoß befand sich eine Kolonialwarenhandlung und das kaufmännische Büro des Vaters, im ersten Stock wohnte die Familie und in den Dachkammern wohnten die Mitarbeiter. Auf dem Hof befanden sich umfangreiche Lagerräume und Ställe sowie Unterstellmöglichkeiten für die Bauernwagen, die am Mittwoch und Sonnabend zu den Markttagen in die Stadt kamen, um einzukaufen. Graudenz war der wirtschaftliche Mittelpunkt der Region und es fand die Lagerung von Getreide und anderen Erzeugnissen zur ländlichen Versorgung dort statt. Die Fuhrwerke spielten dabei die entscheidende Rolle. Erst als die Eisenbahnlinie auch Graudenz erreichte, änderte sich die Situation. Die Eisenbahn fuhr seit 1881 bis Laskowitz, wo man umsteigen musste, um nach Bromberg oder Danzig zu gelangen. Der Vater nutzte die neu eröffnete Eisenbahnstrecke, um mit seiner ganzen Familie den Bruder August Lindner in Bromberg zu besuchen und stellte den sechsjährigen Ernst vor die Alternative mitzukommen oder ein Taschengeld von 70 Pfennigen zu erhalten und bei der Großmutter Amalie Burandt in Graudenz zu bleiben. Das Taschengeld gab den Ausschlag und Ernst Lindner blieb bei der Großmutter und setzte das Geld groschenweise in Schokoladenplätzchen mit Zuckerperlen um. Mit der Eisenbahn wurde auch eine neue Brücke über die Weichsel gebaut. Die Weichsel faszinierte die Menschen, die an ihrem Ufer lebten. Am Abend des Johannistags, am 24.06., wurden längs der Weichsel Tonnen mit brennendem Teer aufgestellt. Das gab in der Nacht ein malerisches Bild und alle Einwohner kamen zur Brücke, um dieses Ereignis mitzufeiern. Vielleicht war das auch ein alter Brauch der Heiden, die zur Sonnenwende Feuer entzündeten. Zur Wintersonnenwende am 21./22.12. wurde unter den Mitarbeitern im väterlichen Kolonialwarengeschäft ein Julklapp veranstaltet. Man wickelte kleine Geschenke, oft nur eine Nuss, einen Apfel oder ein Stück Seife, aufwendig als Geschenk ein, stellte es in die Kammer eines anderen Mitarbeiters. Unvergessliche Erinnerungen für Ernst Lindner waren aber die Eisschollen im Winter auf der Weichsel. Der spannendste Augenblick war, wenn die teilweise übereinander geschobenen Eisschollen durch riesige Eisschollen aus Thorn die Fahrrinne verstopften. Im Sommer fuhr die ganze Familie ins Grüne. Es wurden in einem ländlichen Lokal der mitgebrachte Streußel-Napfkuchen oder die Spezialität der Großmutter „ein Anhaltskuchen“ verzehrt. Ansonsten ging man am Sonntag in den nahen Stadtwald spazieren. Dort stand am Eingang das Kriegerdenkmal und später hat man im oberen Bereich einen neuen Friedhof angelegt, wo auch seine Großmutter Amalie Burandt, geborene Pickardt (*18.031819 in Graudenz – † 28.02.1899 in Graudenz) begraben lag. Neben ihr wurden auch die drei unverheirateten Schwestern der Mutter Marie, Hedwig und Olga beigesetzt, die ihn als Kind sehr verwöhnten.
Kindergarten und Schule
Ehe Ernst Lindner in die Schule kam, ging er mit 30 anderen Kindern in den Kindergarten in Graudenz. Fräulein Swakowius leitete den Kindergarten, der aus einem Zimmer bestand, in dem die Kinder auf Schiefertafeln Bilder malten oder Wollfäden durch Papier zogen. Es war mehr eine Aufbewahrung für die Kinder zur Entlastung der arbeitsbelasteten Mütter, als ein Kindergarten im modernen Sinn. Spielen, Märchen vorlesen oder Singen sowie Aufenthalt im Freien waren nicht dabei.
De Einschulung in Graudenz fand im alten Gymnasium statt. Er durch lief die Nona (2.Klasse). Die Octava (3. Klasse) wurde vom jungen Lehrer Haack mit blonden Backenbart geleitet und das Rechnen unterrichtete der Lehrer Zander, der die Kinder oft zum Lachen brachte. Er kam am Ende des Schuljahrs in die Septima (4. Klasse) und zog nun mit seiner Klasse in das neuerbaute Königliche Gymnasium um, das vom Direktor Dr. Kretschmann geleitet wurde. Er war der zweitbeste Schüler in der Klasse. Bei der Einweihung in der Aula, zu der sich das gesamte Lehrerkollegium, die Amtsträger, die Eltern, die Schüler und viele Gäste versammelt hatten, musste nach einem Gesang und der Festrede des Direktors aus jeder Klasse ein Schüler ein Gedicht aufsagen. Die Wahl war auf Ernst Linder gefallen und er sprach mit Betonung und Ausdruck sehr laut:
Matthias Claudius Der Winter ist ein rechter Mann, kernfest und auf die Dauer; sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an und scheut nicht süß noch sauer.
Aus Blumen und aus Vogelsang
weiß er sich nichts zu machen,
hasst warmen Trank und warmen Klang
und alle warmen Sachen.
Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht
und Teich und Seen krachen,
das klingt ihm gut, das hasst er nicht,
dann will er tot sich lachen.
Sein Schloss von Eis liegt ganz hinaus
beim Nordpol an dem Strande,
doch hat er auch ein Sommerhaus
im lieben Schweizerlande.
Da ist er denn bald dort, bald hier,
gut Regiment zu führen,
und wenn er durchzieht, stehen wir
und seh'n ihn an und frieren.
Es gab ein fröhliches Lachen und viel Beifall bei den Zuhörern sowie ein Lob des Direktors und des Klassenlehrers Haack. Der Vater hatte auch sehr gelacht und war sehr stolz auf seinen Sohn.
Als die Eltern nach Danzig umgezogen waren, kam Ernst Lindner zum Realgymnasium St. Johann und später zum städtischen Gymnasium. Er absolvierte Septima und Sexta. In der Quinta fing Französisch an und da haperte es. Er musste sie wiederholen. Er wurde von Pfarrer Dr. Weinlig in der gotischen Hallenkirche St. Marien in Danzig konfirmiert. Sein Konfirmationsspruch lautete: „Herrgott, Du bist meine Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge waren und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist Du, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Psalm 90). Dieses Wort begleitete ihn sein ganzes Leben lang. Von solchen Feiern wurde im Haus Lindner nicht viel Aufhebens gemacht. Natürlich wurde Kuchen gebacken und es gab Geschenke, aber Gäste waren nicht eingeladen. Ernst Lindner freute sich besonders auf die Sommer, denn dann fuhr die Familie mit dem eigenen Landauer und dem alten Schimmel „Pascha“ nach Soppot und wohnte in dem abgelegenen Fischerort am Meer.
Landauer
Am Strand waren an langen Stangen die Fischernetze zum Trocknen und Ausflicken gespannt, die Segelboote kamen vom Fang oder lagen umgestülpt zum Teeren am Strand. Man konnte die gefangenen Fische am Strand frisch oder geräuchert kaufen. Flundern, Aale, Sprotten, Bücklinge mit einer Schnitte groben Brotes waren ein leckeres Abendbrot. Mit der kräftigen Seeluft mischte sich der Geruch von Teer, Tang und Wacholderrauch (Cadick) der Fischräuchereien. In den Jahren 1888 -1892 verbrachte die Familie immer vom 1. Juli bis Anfang September im Kurort Soppot die Sommerfrische, wo viele reiche Familien am Ostseestrand ihren Urlaub verlebten. Ein reicher Mäzen spendete 200,00 Mark für ein Tanzvergnügen in der Talmühle. Angeblich soll Joseph von Eichendorff die Talmühle als Anregung für sein Gedicht „In einem kühlen Grunde“ genommen haben.
Das zerbrochene Ringlein.
In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad
Mein’ Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.
Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu’ gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.
Ich möcht’ als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und geh’n von Haus zu Haus.
Ich möcht’ als Reiter fliegen
Wohl in die blut’ge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.
Hör’ ich das Mühlrad gehen:
Ich weiß nicht, was ich will —
Ich möcht’ am liebsten sterben,
Da wär’s auf einmal still!
Der Kurkapellmeister Riegg hatte versprochen mit Klavier und Geige das Tanzvergnügen musikalisch zu leiten, aber er kam erst verspätet an und so musste Ernst Lindner einspringen und spielte am Klavier die unvermeidliche Polonaise zum Walzer, den Rheinländer, die Polka, die Tiroliennen, die Mazurka und die Warsorienne bis endlich die Musikanten kamen und er selbst zur Quadrille (Francaise) antreten konnte und auch die Kommandos dazu gab. Er soll dabei so laut geschrien haben, dass auch die Eltern die 500 m entfernt wohnten, jedes Wort verstehen konnten. In der Quarta bekam er den Mathematiklehrer Maximilian Grott und so kam er von der Obersecunda zur Oberprima. Ernst Lindner liebte das Griechisch sehr und war auch sehr gut darin, aber ein neuer Griechischlehrer glaubte es nicht und gab ihm statt sehr gut, ein befriedigend. Dadurch bestand er das Abitur nur mit gut.
Schulsystem
- Klasse
- Klasse Nona
- Klasse Oktava
- Klasse Septima
- Klasse Sexta
- Klasse Quinta
- Klasse Quarta
- Klasse Untertertia
- Klasse Obertertia
- Klasse Untersekunda
- Klasse Obersekunda
- Klasse Unterprima
- Klasse Oberprima
Auf dem Tanzfest der Königlichen Abiturienten am 14.03.1893 hatte er Frida und Margarete Tilsner kennengelernt und sich sofort in Grete verliebt. Margarete Tilsner war am 07.08.1877 in Danzig geboren worden.
Er war sehr stolz, dass er am 03.03.1894 bei der Abiturprüfung von den mündlichen Prüfungen befreit wurde und deshalb eine ziegelrote Mütze tragen durfte. Er stand in Deutsch, Mathematik, Physik, Chemie und Zeichnen auf eins und im Französisch und Geschichte auf zwei und erhielt als Primus omnium (Bester von allen) ein Stipendium von 70 Reichsmark, das er sparte.
Studium
Nach dem Abitur ging er 1894 nach Freiburg im Breisgau, wo er Jura und Volkswirtschaft studierte. Das Jurastudium war kurz. Er brauchte nur drei Jahre dazu (sechs Semester) und war von seinem Vater angehalten worden, mit den 125 Goldmark pro Monat auszukommen und das Studium nicht zu verbummeln, wie es viele junge Leute machten und dann in Alkoholismus und Armut endeten. Für Juristen gab es genug Betätigungsfelder in der Justiz, in der Verwaltung, in den Schulämtern, in den Konsistorien, der Eisenbahnverwaltung, der Kommunalverwaltung, den Banken, im Handel, in der Industrie und natürlich an den Universitäten. Von dort aus besuchte er das erst Mal die Schweiz. Für die Reise benutzte er das ersparte Stipendium. Der Vater hatte ihm von seiner eigenen Reise in die Schweiz oft erzählt und er war überrascht von dem Fortschritt seit dem Besuch seines Vaters. Statt der Kerze auf dem Nachtisch, die jeden Tag extra bezahlt werden musste, gab es elektrisches Licht. Er sah in Zürich die erste elektrische Straßenbahn, während man in Danzig, Berlin und München noch Pferdebahnen hatte. Als Student durchwanderte er den Schwarzwald und es war eine Leidenschaft von ihm geworden, alle Türme, die es gab zu besteigen. Angefangen hatte es mit dem Turm der Danziger Marienkirche, dann folgten das Straßburger Münster, der Herkules in Baden-Baden, die Türme des Kölner Doms und später der Campanile in Venedig und das Dach des Mailänder Doms. Dabei kam ihm immer das Gedicht von Goethe aus dem Faust vom Türmer in den Sinn.
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen
Gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
Ich seh in der Näh,
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh ich in allen
Die ewige Zier
Und wie mir's gefallen
Gefall ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei wie es wolle,
Es war doch so schön!
Die Universität verpflichtete damals aber jeden Studenten, sich nicht nur auf sein Fachgebiet zu beschränken, sondern auch andere Vorlesungen zu besuchen. So belegte er auch Römische Geschichte, Archäologie, Philosophie und Medizin. 1895 lernte er bei einem Besuch bei Freunden auch Ricarda Huch kennen. Er bestieg mit seinen Freunden oft den Schauinsland, den Feldberg und den Eckpeiler der Schwarzwaldkette, das Belchen. Ernst Lindner durchwanderte auch die Vogesen.
Das Wintersemester 1894/1895 musste er auf Anordnung seines Vaters in Berlin absolvieren. Als er am 15.10.1894 in Berlin am Alexanderplatz ankam, holte ihn ein Freund aus Danzig ab und ging mit ihm in das gerade neu eröffnete Lokal „Aschinger“ am Spittelmarkt. Der Bäckermeister Aschinger kam aus München und hatte in ganz Berlin mit Stehbierhallen in Blau-Weiß-Farben von Bayern ein kleines Imperium errichtet. Bei Aschinger am Spittelmarkt gab es dicke Bockwürste mit Kartoffelsalat und Weißbrot nach Belieben für 25 Pfennige. Dazu gab es eine Tasse Fleischbrühe oder ein Bier für 10 Pfennige. Zum gleichen Preis konnte man auch halbe belegte Brötchen mit Wurst, Schinken, kaltem Braten, Eiern, Lachs, Sardinen oder Kaviar bekommen. Aschinger war so erfolgreich, dass er in Berlin viele Hotels und Restaurants kaufte. Erst Lindner konnte damals noch nicht ahnen, dass er von 1933 – 1940 einmal in Berlin -Charlottenburg wohnen sollte. Als Student wohnte er nahe an der Universität. Die Staatsbibliothek befand sich in der so genannten „Commode“, ein Gebäude, das an dem bescheidenen Wohnpalais von Kaiser Wilhelm I. angrenzte und zur Opernseite ausgerichtet ist. Die „Commode“ war ein Barockpalast, an dem in goldenen Buchstaben stand „Nutrimentum Spiritus“ (Nahrung des Geistes), was die spottlustigen Berliner zu vielen Witzeleien veranlasste wie „Spiritus is ooch een Nahrungsmittel.“ Ein Freund in Berlin schenkte ihm den „Eliland“ von dem Münchener Dichter Karl Stieler. Die Gedichte wurden vom Schweizer Komponisten Altenhofer vertont und er sang sie oft und gern zunächst begleitet von seinem Freund und später von seiner Frau. Es geht in den Gedichten um die Tochter von Kaiser Karl dem Großen, Irmingard, die als Nonne auf die Fraueninsel im Kiemsee verbannt wurde. Irmingard wurde später heilig gesprochen. Als Student wohnte er in Berlin in der Friedrichstraße 36 II. Hof, Aufgang C im vierten Stock, aber es störte ihn als jungen Mann gar nicht. Im Nebenzimmer stand ein Klavier zur freien Verfügung und so spielte er abends meist Klavier, die Müllerlieder und die Winterreise von Schubert und viel Schumann. Sein Zimmer war warm und die Miete moderat, denn die Vermieter waren keine gewerbemäßigen Vermieter, sondern vermieteten nur so nebenher. Wenn man die Weidendammer Brücke überquerte und im „Quartier latin“ jenseits der Spree wohnte, also in der Oranienburger Straße und so weiter, gab es auch Wuchermieten. Die Sonntage verbrachte er meist beim Bruder seiner Mutter, Paul Burandt. Das Berliner Musik- und Theaterleben zog ihn völlig in seinen Bann. Er schwärmte sein ganzes Leben lang von den Generalproben des Philharmonischen Orchesters unter Hans von Bülow, Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler. Für Studenten gab es im 4. Rang im "Königlichen Opernhaus Unter den Linden" Plätze für eine Mark und im "Königlichen Schauspielhaus" am Gendaremenmarkt für 50 Pfennige. Shakespeare sah man nirgendwo vollkommener als im „Deutschen Theater“ in der Schumannstraße.
Am 21.04.1895 setzte er sein Studium in München fort. Als er ankam, regnete es in Strömen, „Schnürlen“ wie man in Bayern sagte. Es war furchtbar kalt. Ein Dienstmann nahm seine Koffer und brachte sie zur blau-weißgestrichenen Pferdebahn, setzte ihn und die Koffer an einer Haltestelle in ein Lokal und begab sich auf „Budensuche“. Ernst Lindener hätte gern einen warmen Kaffee getrunken, aber es gab nur eiskaltes Bier, was ihm einen Magenkatarrh verschaffte. So kam es, dass er später wie sein Vater auch die Heilbäder Kissingen, Mergentheim, Franzensbad und Marienbad besuchen musste und eine strenge Diät hielt. Eis und kalte Getränke mied er und liebte mehr Wermut und Rotwein statt Bier. Es dauerte nicht lange, da kam der Dienstmann zurück und hatte für ihn ein Zimmer bei einem Schuster in der Adalbertstr. 14 gefunden. Es roch zwar etwas muffig, aber wegen der Nähe zur Universität fiel er todmüde in die blauweiß gewürfelten Bettbezüge und schlief erst einmal. In München gab es eine große Gruppe von Danziger Studenten, denen er sich bald anschloss und auch musizierte. Er besuchte eifrig die sehr guten juristischen Vorlesungen und versuchte alles nachzuholen, was er in Berlin versäumt hatte. Daneben nahm er München als Kunststadt wahr und besuchte alle Kunstausstellungen von Bedeutung. Im Herbst 1885 mietete er sich bei der Witwe Küspert ein, die im dritten Stock ein Zimmer für ihn hatte, was wie ein Atelier wirkte, denn an den Wänden hing Bild an Bild. Es waren auch gute Sachen dabei und er kam sich vor, als schliefe er in einer privaten Bildergalerie. In bescheidener Art nahmen die Studenten auch am Münchener Fasching teil. Jedes Lokal, in dem man zu Mittag aß, pflegte auch einen Hausball zu veranstalten und so kam es, dass die Danziger Studenten in ihrem „Academie Café Minerva“ eingeladen wurden, wobei es aber im fortgeschrittenen Stadium zu einer Rauferei kam und die Saupreussen verprügelt wurden. Die vielgerühmte bayrische Gemütlichkeit war für die Norddeutschen eine zweischneidige Sache. Im Frühling gab es Spaziergänge in Nymphenburg und im Englischen Garten und dann an den Wochenenden Ausflüge ins Isartal nach Pullach, Grünwald bis nach Wolfratshausen. Zu Pfingsten 1895 fuhr er mit Freunden nach Garmisch. Er besuchte auch Südtirol, das erst 1919 zu Italien kam. Dort ist Walter von der Vogelweide geboren. Natürlich war er auch in Neuschwanstein und vielen anderen berühmten Orten in Bayern. Diese Wanderseligkeit wurde von einer Operation am vorletzten Wirbel des Steißbeins beendet, wo sich eine sogenannte Steißbeinzyste gebildet hatte. Das Sommersemester ging gerade zu Ende, da war seine ärztliche Behandlung abgeschlossen. Seine Erinnerungen an München. 60 Pfennige für ein gutes Mittagessen im Café Minerva. Es gab immer Weißwürste und Bratwürste mit Kraut oder ohne vom Rost. Käse und Eier in Hülle und Fülle. Im Winter saß man bei den „Maronibratern“ am Holzkohleöfchen und steckte die Edelkastanien heiß in die Hosentasche, was gut wärmte oder in den ewig hungrigen Magen, was eine köstliche Zwischenmahlzeit war. Weißwürscht und Brotzeiten waren nicht immer nach norddeutschem Geschmack, aber a Kalbshaxen oder a Brathendl` auf der Oktoberwiesn waren schon seltene Leckerbissen für Studenten.
Familie
Die Semesterferien verbrachte er meist in Danzig oder im Kurort Soppot. Pünktlich zum 17. Geburtstag seiner Gretel am 07.08.1894 war er wieder in Danzig und überreichte ihr einen prächtigen Rosenstrauß mit La France-Rosen, die es heute gar nicht mehr gibt. Man verabredete sich im Schützenhausgarten an der Promenade, wo man zwanglos an kleinen Tischen saß und den Promenadenkonzerten zuhörte. Gretel liebte Schumann, während Ernst Lindner Brahms, Schuman und Schubert bevorzugte. Meist blieb er zum einfachen Abendbrot bei den Tilsners in der Frauengasse in Danzig. Es gab Weißbrot, Butter, gekochten Schinken, Eier und man trank Bier dazu. Ernst Linder brachte ab und an Ölsardinen, Danziger Stremel-Lachs oder Blutapfelsinen mit. Man lebte in Danzig nicht schlecht. Der Reichtum an Fischen, vom Edellachs angefangen über Zander, Butten und Flundern bis zu frischen Heringen und Breitlingen war unübertrefflich, besonders auch die Auswahl an geräucherten Lachsen, Aalen, Flundern, Bücklingen, Sprotten und endlich auch an herrlichen Krebsen, die im Salzwasser mit Dill gekocht wurden.
In den ersten Semesterferien wurden auch Ausflüge mit dem Kremser nach Espenkrug (1894) und später auch nach Kahlbude (1896) gemacht.
Am 18.05.1904 heiratete Ernst Lindner Margarete Tilsner (*07.08.1877 - ) in der St. Marienkirche in Danzig. Mit einem eleganten Wagen, der mit Myrthen und Rosen geschmückt war, fuhr das Brautpaar zum Standesamt und später zur Trauung in die Kirche. Es war eine unvergessliche Fahrt. Beim Wechseln der Ringe hörten sie von der Orgelempore das Lied: „Herr, den ich tief im Herzen trage, sei Du mit mir…“ Hermann Dinklage hatte mit seiner wunderbaren Tenorstimme dieses Lied gesungen und schenkte dem jungen Paar ein in Eichenholz gerahmten Kupferstich vom Brandenburger Graphiker Bernhard Manfeld mit dem Rathaus und dem Langemarkt in Danzig. Nach der Trauung fuhr die Hochzeitsgesellschaft mit verschiedenen Wagen bis zum Goldkrug, wo die erste Rast gemacht wurde und die mitgebrachten Essvorräte begutachtet wurden. Dann ging es weiter zum Espenkrug, wo es Kalbs- und Schweinebraten gab und auch die mitgebrachten Vorräte weiter verkostet wurden. Dann ging es hinaus in den Garten, wo Spiele veranstaltet wurden, bis man sich zur Kaffeetafel im Freien setzte und riesige Mengen von mitgebrachten Napf- Streusel- und Handkuchen vertilgt wurden. Ein Männerquartett sang während des Kaffeetrinkens „Weh, dass wir scheiden müssen“, „Lass mich noch einmal küssen“, „Ich muss hinaus zum Streite“, „Ich muss an Kaisers Seite“, und „Fahr wohl, fahr wohl, mein teures Lieb.“ Dann begann der Tanz mit Klavier und Geige. Es gab aber nach Meinung von Ernst Linder schöne Tänze wie Walzer, Rheinländer, Polka, Tirolinne und Kreuzpolka. Nach seiner Ansicht waren Tango und Rumba Negermusik. Dem jungen Paar wurde es aber im Festsaal bald zu eng und so spazierten sie am See entlang und als sie einen nicht fest gemachten Kahn entdeckten, stiegen sie ins Boot und ruderten ein Stückchen auf den See. Erst da merkten sie, dass der Kahn ein Loch hatte und sie ruderten eilig ans Ufer. Als er mit seiner Frau 1909 die Fraueninsel auf dem Kiemsee besuchte, waren beide von der Schönheit dieser Naturlandschaft überwältigt und sie beschlossen ihre am 27.11.1909 geborene Tochter in der Taufe den Namen Irmingard zu geben. Bei seinem ersten Besuch am Kiemsee auf der Fraueninsel hatte die als Nonne dorthin verbannte Tochter Kaiser Karls des Großen, Irmingard, einen tiefen Eindruck hinterlassen. So ist die Namensgebung wohl zu erklären. Die Taufe am 12.03.1910, dem Hochzeitstag der Eltern von Ernst Lindner.
Die Biografie wird noch weiter bearbeitet.
Er legte sein Abitur am Städtischen Gymnasium in Danzig ab und studierte anschließend Jura in Freiburg im Breisgau, in Berlin, München und Königsberg (heute Russland). Es gibt eine schöne Urkunde in Sütterlin vom Oberlandesgerichtspräsidenten in Marienwerder.
Urkunde vom Oberlandesgerichtspräsident Marienwerder
Anlage:
Patent
Nachdem Sie laut Berichts der Justiz-Prüfungskommission die große Staatsprüfung „ausreichend“ bestanden haben, sind Sie zum Gerichtsassessor mit dem Dienstalter vom 19. März 1902 ernannt worden.
Sie erhalten hierbei das für Sie ausgefertigte Patent mit dem Bemerken, dass der Herr Oberlandesgerichtspräsident in Marienwerder Sie einem Amtsgericht zur unentgeltlichen Beschäftigung überweisen wird. Sie haben Sich zu diesem Zwecke binnen einer Woche bei dem genannten Herrn Präsidenten persönlich oder schriftlich zu melden.
Schönstedt
An
den Referendar
Herrn Lindner
Nach dem bestandenen Zweiten Staatsexamen war er Hilfsrichter am Landgericht Thorn.
Danach war er als juristischer Hilfsarbeiter beim Magistrat von Danzig tätig und verwaltete kommissarisch eine Stadtratstelle in Posen.
1904 wurde er zum Stadtsyndikus in Brandenburg an der Havel gewählt. 1907 war er Stadtrat in Danzig und am 01.04.1907 wurde er zum Ersten Bürgermeister der Stadt Rathenow gewählt. 1918 erhielt er den Titel Oberbürgermeister und wurde am 28.10.1918 mit 45 Jahren auf Lebenszeit zum Oberbürgermeister der Stadt Rathenow gewählt. Ernst Lindner war Patronatsvorsteher der Sankt-Marien-Andreas-Gemeinde und Mitglied des Gemeindekirchenrates der Sankt-Marien-Andreas-Gemeinde in Rathenow. Seine Tochter Irmingard Lindner, später verehelichte Grimm, wurde von Superintendent Georg Heimerdinger in der Sankt-Marien-Andreas-Kirche getauft und konfirmiert.
Am 10.04.1933 entließ ihn die Nazi-Gauleiter Kube mit 60 Jahren aus dem Amt des Oberbürgermeisters, weil er sich weigerte der Nazi-Partei beizutreten. Am 20.07.1933 wurde Ernst Lindner in seiner Wohnung verhaftet und von einer aufgehetzten Nazimeute mit auf dem Rücken gefesselten Händen durch die Stadt getrieben. Die Nazis hatten ihm eine Schild mit diffamieremden Inhalt umgehängt. Dabei wurde er schwer misshandelt und wäre sicherlich getötet worden, wenn nicht der Rittmeister der Reichswehr Erdmann und ein beherzter Polizeibeamter den Ersten Oberbürgermeister Ernst Lindner aus den Klauen der Nazis befreit hätte. Auf Anweisung der Nazibonzen Lasch und Schmah wurde er gezwungen, noch in der selben Nacht mit seiner Familie die Stadt Rathenow zu verlassen. Das amtliche Schreiben zu seiner Entlassung als Bürgermeister der Stadt Rathenow erging vom Preußischen Innenmister am 24.10.1933, wo er einfach in den Ruhestand versetzt wurde.
Biografie wird, wie oben erwähnt, noch weiter bearbeitet. Es sollen noch weitere Beiträge aus den Aufzeichnungen von Ernst Lindner und Fotos aus dem Familienarchiv eingefügt werden
Copyright: Dr. Heinz-Walter Knackmuß 21.01.2021
Ich danke Dr. Konstantin Freiherr von Freytag-Loringhoven für die Überlassung der persönlichen Aufzeichnungen seines Großvaters, Ernst Lindner, die in gekürzter, leicht geänderter Form wiedergegeben wurden