31-Landin-Der Prozess am 01.09.2019
31. Der Prozess
Elisabeth Müller mit Sohn Dieter
Elisabeth Müller lebte mit ihren Eltern und dem Sohn Dieter in einem kleinen Häuschen in Landin und versuchte, nachdem ihr Mann 1943 in Russland im Krieg ums Leben gekommen war, so recht und schlecht zurechtzukommen. Ihre Mutter Olga und ihr Vater halfen ihr dabei. Die Mutter hatte eine Krebserkrankung an der linken Schläfe und war von dem berühmten Chirurgen Dr. Wilhelm Reinke in Rathenow „bei klarem Verstand“ operiert worden, wie sie gern erzählte, und präsentierte allen ihre große Narbe. Bei klarem Verstand meinte wohl in lokaler Betäubung. Der Chirurg war wirklich ein Künstler seines Faches, denn er operierte 1930 den Blinddarm mit so einem kleinen Loch in der Haut, dass die heutigen Endoskopie-Operateure vor Neid erblassen könnten. Er hatte ein kleines Krankenzimmer neben seinen Praxisräumen eingerichtet. Wenn er die Operation beendet hatte, trug er jeden Patienten selbst in das Krankenzimmer und legte ihn ins Bett. Viele kuriose Geschichten waren von ihm Umlauf. Als die Frau des Landrates, Alice von Bredow, einmal in seiner Praxis erschien und sich vor ihm aufstellte und sagte: “Ich bin Alice von Bredow,“ meinte der Dr. Reinke, der alle duzte: “Wenn das so ist, kriegst Du zwei Stühle bei mir,“, worauf die adlige Dame fluchtartig seine Praxis verließ und zur Berliner Charité fuhr, wo man sich aber an die komplizierte Operation nicht so recht ranwagte und ihr bedeutete, sie möge doch zu dem brillanten Chirurgen Wilhelm Reinke nach Rathenow gehen. Als sie dann kleinmütig wieder in seiner Praxis erschien, begrüßte er sie mit den Worten: „Na sieh`ste Mädchen, nun hab´ ich Dich ja doch.“
Die Eltern von Elisabeth hatten ein kleines Stückchen Feld neben dem Haus, das sie bewirtschaften und einen riesengroßen Garten. Sie fütterten zwei Kühe und ein paar Schweine und hatte Hühner, Enten und Gänse.
In der Nachbarschaft lebte eine reicher Großbauer Willi Schulze, der mit seiner Frau Mathilde, seinem Bruder Paul und seiner Schwester Else die ganze Wirtschaft bearbeitete. Mathilde war eine bildhübsche Frau und stammte aus Kamern. Man nannte sie überall Tilli. Willi Schulze hatte eine prächtige Kutsche und zwei braune Hengste, mit denen er gern durchs Dorf und nach Rathenow fuhr. Er war auch jedes Jahr zur „Grünen Woche“ in Berlin und schwärmte von diesem Ereignis. Mit der ehelichen Treue nahm er es aber nicht so genau. Eine schöne Witwe mit drei Kindern hatte es ihm angetan, und er war gern bei ihr. Sie hieß Sophia Kaiser und war eine perfekte Hausfrau. Sie konnte wunderbare Torten backen. Wenn ein Bauer im Dorf Geburtstag hatte oder eine Familienfeier anstand, brachte man Mehl, Butter, Eier, Zucker und eingewecktes Obst zu Sophia und sie zauberte Schwarzwälderkirschtorten und Butterkremtorten und andere Köstlichkeiten für die Kaffeetafel. Tilli arbeitete lieber auf dem Feld. Abends gab es in der Familie immer Pellkartoffeln mit Stippe. Die Stippe wurde aus gebratenem Speck mit Zwiebeln und Mehl hergestellt und jeder nahm sich nachdem die gekochten Kartoffeln einfach in einer Schüssel auf dem Abendbrottisch gestellt wurde, eine Kartoffel und pellte sie ab und stippte sie in die Soße und das, Abend für Abend. Willi Schulze war mit seinen Geschwistern und seiner Frau immer verzankt und die Nachbarn wunderten sich, dass sie, obwohl sie wochenlang nicht miteinandersprachen, sich jeden Tag immer auf dem gleichen Feld oder der Wiese zur Arbeit einfanden. Willi bezahlte seine Geschwister Paul und Else für ihre Arbeit. Geld hatte er genug.
Elisabeth Müller hatte inzwischen eine Arbeit als Köchin in der „Bahnhofswirtschaft Rathenow“ im Rathenower Hauptbahnhof gefunden und fuhr jeden Tag auch im Winter mit einem „Hühnerschreck“ zur Arbeit. Als „Hühnerschreck“ bezeichnete man ein Fahrrad, das einen kleinen Benzinmotor zum Antrieb an der Seite angebaut hatte.
Bahnhof Rathenow
Sie war eine fleißige Frau und kochte Soljanka, Kartoffelsuppe und legte das Fleisch für den Sauerbraten ein und machte riesige Schüsseln von Kartoffelsalat, denn Kartoffelsalat mit Würstchen war am Bahnhof der Renner. Siegfried Bading führte von 1946 – 1973 als sparsamer und umsichtiger Mann die Gaststätte und hatte so einen guten Ruf, dass viele Rathenower gern zum Essen zu ihm kamen. In den besten Zeiten hatte er fast 50 Mitarbeiter und die Gaststätte lief jeden Tag bis 22:00 Uhr. Auch am Heiligabend mussten seine Frau und die beiden Töchter Heidemare und Hilke bis nach 22:00 Uhr auf die Bescherung warten, weil der Vater Mitleid mit den Reisenden hatte und sie auch noch am Abend mit Essen versorgte. Er ließ selten Lebensmittel verderben. Morgens tauchte er die alten knochenharten Brötchen in seinen Kaffee und aß sie dann als eine Art Kaffeemüsli mit Marmelade.
Bierdeckel der Bahnhofswirtschaft
Paul Schulze hatte Elisabeth Müller ins Herz geschlossen und an den Sonntagen machten sie oft lange gemeinsame Spaziergänge durch die Wälder und Felder um Landin. Er half ihr auch bei der Feldarbeit, als ihre Eltern das nicht mehr konnten. Reinhilde, ihre jüngere Schwester, war nach Westberlin gegangen und arbeitete dort. Sie heiratete einen Westberliner und bekam einen Sohn. Als sie das zweite Mal schwanger wurde, fragte sie ihre Schwester, ob sie nicht den zweiten Sohn mitaufziehen könnte. Ihr würde das zu viel werden. Elisabeth sagte: „Aber natürlich, das mache ich gern.“ Und so wuchs neben ihrem Sohn ein kleiner Knirps in Landin heran, der auch an ihr hing, als wäre sie seine Mutter und das war sie ja letztendlich auch. Willi Schulze und seine Frau Mathilde starben kinderlos und hinterließen alles dem Bruder Paul. Als auch Else, die Schwester von Paul, starb, wohnte er ganz allein in dem großen Haus. Elisabeth kümmerte sich sehr um ihn. Sie hielt ihm das Haus in Ordnung, sie machte ihm die Wäsche und kochte für ihn und manchmal wohnte sie auch bei ihm. Ihr Eltern waren gestorben, die beiden Söhne gingen ihre eigenen Wege und so fühlte sie sich zu Paul hingezogen, und er nahm ihre Liebe dankbar an. Er sagte zu ihr: „Weißt Du ich habe 100.000,00 Mark auf dem Konto und ich brauche ja nicht mehr viel. Ich bestelle die Notarin und dann mache ich mein Testament zu Deinen Gunsten. Du bekommst das Geld und das Haus und alles, was zum Hof gehört.“ „Wenn Du das so willst, machen wir das so.“ Elisabeth Müller fuhr zur Notarin, Luise Freitag, und bestellte sie nach Landin, denn Paul Schulze sei schon zu alt und gebrechlich, um noch selbst nach Rathenow zu kommen. Die Notarin kam auch pünktlich um 10:00 Uhr nach Landin, wo ihr aber Elisabeth Müller mitteilte, dass Paul Schulze in der Nacht ins Krankenhaus gekommen wäre und am Magen operiert worden sei, so dass der Termin verschoben werden müsste. Elisabeth fuhr natürlich sofort ins Krankenhaus und sprach mit dem Operateur, Dr. Wilhelm Grundmann, der ihr mitteilte. Ihr Freund hätte einen Magendurchbruch gehabt. Ein Magengeschwür sei geplatzt und man hätte einen Teil des Magens entfernen müssen, aber der Paul sei ja ein „harter Knochen“, der würde das schon überstehen. Sie besuchte den Paul auf der Wachstation und sprach mit ihm über den vergeblichen Besuch der Notarin. „Hol doch bitte alles Geld vom Konto und nimm es an Dich, wir bestellen die Notarin, wenn es mir wieder besser geht,“ sagte Paul zu ihr und sie hatte ja schon lange eine Bankvollmacht von ihm. Paul war guter Hoffnung, dass er bald wieder nach Landin könne und sie war getröstet durch seine Worte. Aber sie fuhr doch zur Bank und hob 90.000,00 Mark bar vom Konto ab. Jeden Tag besuchte sie den Paul und brachte ihm frische Wäsche und fragte, ob sie noch etwas für ihn besorgen sollte, aber er winkte nur müde ab und war zufrieden. So recht vorwärts ging es aber doch nicht mit dem Heilungsprozess und Dr. Wilhelm Grundmann erklärte ihr: „Er ist eben schon alt, da dauert alles etwas länger.“ Als sie eines Morgens wieder ins Krankenhaus kam, lag er nicht mehr auf der Station und die Ärzte sagten ihr, er hätte in den frühen Morgenstunden eine Nachblutung bekommen, die nicht mehr zu beherrschen war. Sie weinte bitterlich und sorgte für das Begräbnis und wollte den Haushalt auflösen, als sie von einem Anwalt einen Brief erhielt und ihr untersagt wurde, sich weiter um die Angelegenheiten zu kümmern, denn Verwandte im Dorf seien die legitimen Erben und hatten schon einen Erbschein beantragt. Sie wurde auch aufgefordert, die 90.000,00 Mark zurückzugeben, die sie in ihren Augen widerrechtlich abgehoben hätte. Elisabeth Müller sagte sich: „Ich habe mich um ihn gekümmert, als er alt war. Er hat mich dazu aufgefordert, das Geld abzuheben. Ich habe mir nichts vorzuwerfen,“ und rührte sich nicht. Aber eine Tante und ein reicher anderer Verwandte verklagten sie beim Kreisgericht Rathenow und forderten die Herausgabe der 90.000,00 Mark. Es kam zum Prozess in Rathenow und nun wurde alles noch einmal aufgerollt.
Gericht in Rathenow
Der Richter fragte sie, was sie zu den Anschuldigungen zu sagen habe. Elisabeth Müller erklärte dem Richter, dass Paul Schulze ihr Lebensgefährte war und sie sich um ihn gekümmert hatte und er die Notarin bestellt hätte, damit sie zur alleinigen Erbin eingesetzt würde, dass aber wegen der schweren Erkrankung die Notarin das Testament nicht mehr aufsetzten konnte und Paul habe sie im Krankenhaus beauftragt, das gesamte Geld vom Konto zu holen. Sie habe ja nicht ahmen können, dass er wirklich stirbt, denn die Ärzte wären sehr zuversichtlich gewesen. „Warum haben Sie denn nur 90.000,00 Mark und nicht alles abgehoben?“ fragte der Richter. „Weil ich ja alles erben sollte.“ „Und wo ist das Geld nun?“ fragte der Richter weiter. Elisabeth hob die Achseln. „Na, Sie müssen doch wissen, wo das Geld ist?“ Erneutes Achselzucken. Jedenfalls kam das Gericht zur Überzeugung, dass es der letzte Wille des Verstorbenen war, der Verklagten das Geld zu geben. Die Notarin bestätigte den vereinbarten Termin, der ja dann nicht zustande gekommen war. Die Klage der Verwandten wurde abgewiesen und die Kosten entsprechend dem Streitwert auf 10.000,00 Mark festgelegt. Die Verwandten wurden verurteilt die Kosten des Verfahrens zu tragen und damit waren die restlichen 10.000,00 € Mark auf dem Konto auch dahin, sehr zum Ärger der Verwandten. Die verkauften das Haus und hatten so wenigstens eine kleine Einnahme. Elisabeth freute sich an dem Geld, auch wenn sie lieber ihren Paul behalten hätte, aber im Leben kann man nicht alles haben.
© Dr. Heinz-Walter Knackmuß 01.09.2019