56-Landin - Die Gemeindeschwester von Landin 01.10.2021
56. Die Gemeindeschwester von Landin
Martha Fellert hieß die Gemeindeschwester von Landin. Sie wohnte in Kriele und versorgte die Menschen in beiden Dörfern. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Telefonanschlüsse in Landin und Kriele. Der Bürgermeister, die Post, der Abschnittsbevollmächtigte der Deutschen Volkspolizei und natürlich die Gemeindeschwester. Martha Fellert war examinierte Krankenschwester und hatte am Paracelsus-Krankenhaus in Rathenow eine zweijährige Zusatzausbildung mit dem Abschluss als Gemeindeschwester absolviert. Die Arbeit im Krankenhaus blieb ihr bis ins hohe Alter noch in lebendiger Erinnerung. Die Ärzte am Paracelsus-Krankenhaus gingen am Vormittag ihrer Arbeit nach und einige unterrichteten nachmittags die angehenden Gemeindeschwestern in ihrem Fachgebiet. Die Schwestern mussten auch auf allen Stationen mitarbeiten. Sie machten die Äther-Narkosen und oft war es auch nötig, bei den Operationen als Assistentinnen einzuspringen, weil überall ein großer Ärztemangel herrschte. Einmal musste Schwester Martha einen vierjährigen Jungen betäuben und fragte ihn: „Kannst Du schon zählen?“ „Ja,“ sagte der Junge aber nur bis vier.“ „Na gut, dann üben wir das mal und wenn Du bei vier angekommen bist, fängst Du wieder von vorn an. Also 1,2,3,4 und dann wieder 1,2,3,4.“ Ich komme nachher mit der Maske zu Dir und dann zählen wir zusammen.“ Der Junge war damit einverstanden. Nach einer kurzen Pause kam Schwester Martha Fellert zurück und wollte mit der Äther-Narkose beginnen, da fragte sie der Junge: “Und wo ist Dein Holzhammer?“ Als sie auf der Frauenstation arbeitete, kam eine junge Frau mit einem Tumor im Unterbauch zur Operation. Der noch sehr unerfahrene Operateur und Schwester Martha als Assistentin operierten die Frau und als der Arzt die Bauchhaut durchtrennt hatte und die Gebärmutter betastete, entpuppte sich der Tumor als kleines menschliches Wesen, das in der Gebärmutter heranwuchs. Eilig nähte der Arzt die Bauchhaut wieder zu und die Mutter brachte nach drei Monaten ein gesundes Mädchen zur Welt. Als sie in Kriele als Gemeindeschwester begann, fuhr sie natürlich mit ihrem Auto, einem kleinen Trabant, über die Dörfer und besuchte die chronisch Kranken, wo Blutdruck gemessen wurden und wenn es notwendig war, auch Rezepte überbracht wurden. Sie hatte immer ihre Tasche mit allen Sachen griffbereit und verabreichte die Spritzen, die von den Ärzten verordnet wurden. Jeden Tag hatte sie in Kriele von 8-9 Uhr Sprechstunde, wo die Patienten sie aufsuchten, um sich ihre verordneten Injektionen abzuholen. In dieser Zeit arbeitete ihre Kurzwelle auf Hochtouren, denn das gehörte auch zu ihren Aufgaben.
Haus der Gemeindeschwester Martha Fellert
in Kriele
Einmal in der Woche war auch Arztsprechstunde, die sie betreute und den Arzt dann zu den Hausbesuchen begleitete. Auch die Mütterberatung mit dem Frauenarzt übernahm sie mit und auch wenn in der Kita der Arzt die Kinder untersuchte oder Schutzimpfungen durchführte. Einmal berichtete sie, waren alle Telefone gestört und ein Nachbar kam und holte sie zu einer Frau, die entbinden sollte. Als sie dort ankam, lag die Frau zwischen ihrem Mann und einem Arbeiter aus dem Rinderstall und hatte ihr Kind im Arm. Beide Männer waren erheblich angetrunken. Der Ehemann hatte die beiden Enden der Nabelschnur in der Hand, die er einfach zerrissen hatte und fragte lallend: “Habe ich das nicht gut gemacht?“ Schwester Martha Fellert versorgte die Durchtrennung der Nabelschnur fachmännisch und wartete auf die Nachgeburt, die auch endlich kam. Dann versorgte sie die Mutter und das Baby ordentlich und schmiss die beiden Männer aus dem Zimmer. Inzwischen war die Störung der Telefonanlage wieder behoben worden und ein Krankenwagen kam und brachte Mutter, Kind und Nachgeburt ins Paracelsus-Krankenhaus. Alle Wöchnerinnen wurden drei Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus von ihr besucht und sie half so gut es ging, den jungen Müttern mit der neuen Situation zurechtzukommen. Meist ergaben sich daraus tägliche Hausbesuche bis die Mutter alles allein besorgen konnte. Aber es entstand natürlich eine enge Bindung an die Menschen in den Gemeinden. Im Anfang ihrer Tätigkeit wurde sie bei allen Notfällen gerufen. Gallenkoliken, Nierenkoliken, Blinddarmentzündungen, Nasenbluten oder ausgehakter Unterkiefer. Zuerst wandte man sich an die Gemeindeschwester. Eigentlich stand ihr Telefon Tag und Nacht nicht still. Erst später gab es einen ärztlichen Notfalldienst in der Nacht und sie konnte dann wenigstens nachts schlafen. Aber nicht immer klappte alles mit dem ärztlichen Notdienst und dann riefen die Leute doch bei der Gemeindeschwester an. Ein Schwangere hatte Schmerzen im Bauch bekommen und den Notarzt angerufen. Eine Dr. Dorothea Mayer aus Rathenow ließ sich aber auf einen Hausbesuch nicht ein und meinte, das habe Zeit bis zum nächsten Morgen, wo der Hausarzt Werner Röhricht aus Nennhausen dann vorbeikommen könnte. Also rief der besorgte Mann bei Schwester Martha Fellert an und bat sie um einen Hausbesuch. Da Schwester Martha die Familie gut kannte, wusste sie, dass es ernst war und fuhr sofort hin, untersuchte die im 6. Monat schwangere Frau und sagte: „Das sieht wie eine akute Blinddarmentzündung aus. Ich rufe von zu Haus die Frau Dr. Mayer selbst noch einmal an.“ Aber die selbstherrliche Ärztin ließ sich auf keinen Hausbesuch ein, sodass Schwester Martha die Frau kurzerhand in ihren Trabant lud und einfach ins Paracelsus-Krankenhaus nach Rathenow fuhr.
Schwester Marthas Trabant
Der Chirurg Dr. Wilhelm Grundmann bestätigte ihre Vermutung und operierte die Frau sofort. Am nächsten Tag besuchte der Ehemann seine Frau im Krankenhaus und Dr. Wilhelm Grundmann sagte zu ihm: “Da kaufen Sie mal für Ihre Gemeindeschwester den größten Karton mit Konfekt, den es gibt, denn sie hat Ihrer Frau und Ihrem Kind das Leben gerettet. Der Blinddarm stand kurz vor der Perforation (Platzen) und dann hätten wir kaum eine Chance gehabt.“
Der Bauer Günther Müller aus Kriele berichtete, wie er mit seiner linken Hand in eine Häckselmaschine kam und Schwester Martha seine Wunde klammerte, die auch gut verheilt ist. Die Gemeindeschwester Martha Fellert hatte nicht nur ein Gespür für die richtige Diagnose, sie kannte sich auch mit der Wundversorgung gut aus. Und über die Jahre war sie selbstständig und sicher geworden und die Menschen waren ihr immer wichtiger, als bürokratische Vorschriften.
Bauer Günther Müller
Alte Narbe an der Hand
Aber auch die Krebskranken, die zu Hause bis zu ihrem Tode gepflegt wurden, versorgte sie mit Morphiumspritzen, sodass sie weniger zu leiden hatten. Es waren ja fast immer alte Menschen, die dann ihre Hilfe brauchten. Die Alten halfen ja meist noch im Haushalt oder im Garten mit, wenn es körperlich möglich war. Arbeitslosigkeit war völlig unbekannt. Wer wollte, bekam immer eine neue Arbeit, auch die Faulpelze und Alkoholkranken. Für die Betriebsleiter war das auch nicht immer einfach. In den Orten, die sie zu versorgen hatte, wurde sie von den Menschen mit Respekt und Achtung behandelt, denn fast alle hatten schon einmal ihre Hilfe in Anspruch nehmen müssen und sie bekam durch ihre Arbeit auch Einblicke in die Familien, die sonst niemand hatte. Aber sie war verschwiegen und Tratsch und Klatsch waren ihr fremd. Irmgard Siewert erinnert sich noch an eine Mandelentzündung. Ihre Mutter schickte sie zu Schwester Martha Fellert in die Sprechstunde. Schwester Martha pinselte den Hals mit einer bitteren Jodlösung aus und nach drei Tagen war es besser. Als die Gemeindeschwester älter wurde, bekam sie zunehmend Gelenkbeschwerden in den Knien und war froh, als sie das Rentenalter erreicht hatte. Sie fuhr sofort in den Westen und war geblendet von dem Wohlstand, in dem die meisten Menschen dort lebten. Da sie immer couragiert war, beschloss sie 1972 in die Bundesrepublik überzusiedeln und setzte das auch in die Tat um. Aber richtig Fuß fassen konnte sie dort nicht mehr. Die Wurzeln, die sie in Landin und Kriele geschlagen hatte, waren gekappt und sie starb einsam und verlassen in einem Seniorenheim.
© Dr. Heinz-Walter Knackmuß, 01.010.2021