Gerhard Jonas spendete die Orgelpfeife Nr. 411 am 15.11.2021
Kupferstich von Willibald Jonas 1959
Gerhard Jonas ist ein Sohn des Graveurmeisters Willibald Jonas, der in Rathenow in der Mittelstraße Nr. 4 sein Geschäft hatte und 1959 den oben stehenden Kupferstich nach einem alten Foto gestochen hat. Am 15.11.2021 spendete Gerhard Jonas die Orgelpfeife Nr. 411 (100,00 €) für den Neubau der großen Orgel in der Sankt-Marien-Andreas-Kirche. Der Förderkreis bedankt sich für die Spende. Die Großeltern von Gerhard Jonas, Berta und Konrad Jonas lebten in Berlin, wo auch sein Vater und dessen zwei Brüder geboren wurden. 1915 wurde der Großvater Konrad Jonas nach Premnitz dienstverpflichtet, wo eine Pulverfabrik aufgebaut wurde. 1919 siedelte die ganze Familie nach Premnitz um. Der Vater von Gerhard Jonas, Willibald Jonas (*06.07.1907 -14.05.1997), began nach der Schule von 1923 -1927 eine Lehre beim Graveurmeister bei A.B.C. Pfeffer in Rathenow in der Fehrbelliner Str. 34. Er arbeitete dann in Frankfurt am Main und Berlin und gründete, nachdem er die Meisterprüfung bestanden hatte, 1933 einen eigenen Graveurbetrieb in Premnitz und später in Rathenow in der Mittelstr. 4. Mit fünf Mitarbeitern führte er den Betrieb bis 1940, wo er in den Krieg musste und seine Frau, Elisabeth Alma Jonas, geborenen Schmidt, den Betrieb bis 1945 weiterführte. Die Familie wohnte in der Salzstr. 9 in Rathenow und Gerhard Jonas wuchs nun am Fuße der Sankt-Marien-Andreas-Kirche auf. Gerhard Jonas besuchte zuerst die Gemeindeschule in der Baustraße (Bauschule) und kam später in die Jahnschule bis zur 10. Klasse und absolvierte von 1950 - 1952 eine Ausbildung zum Werkzeugmacher im VEB Mewa-Reißverschluß in Rathenow. 1952 legte er sich mit dem DDR-Staat an und mußte in den Westen fliehen. Er siedelte sich in Esslingen am Neckar an und gründete 1969 einen eigenen Metallbaubetrieb. Seine Eltern waren ihm 1955 nach Esslingen gefolgt.
von links: Willibald Jonas mit Sohn Gerhard Jonas
von Gerhard Jonas – geb. 01. Jan. 1934 in Premnitz
Daten meiner Familie ihrer Zeit in Rathenow.
Meine Großeltern Berta und Konrad Jonas lebten in Berlin-Wedding/Hohenschönhausen.
Dort war der Geburtsort meines Vaters und seiner zwei Brüder.
1915 begann der Aufbau der Pulverfabrik Premnitz und mein Großvater wurde
dorthin dienstverpflichtet. 1919 übersiedelte die ganze Familie nach Premnitz.
Mein Vater Willibald, geb. 06.Juli 1907 – gest. 14.Mai 1997 in Essligen,
absolvierte nach der Schulzeit vom April 1923 bis März 1927 eine Graveurlehre
bei A.B.C. Pfeffer, Graveurmeister in Rathenow, Fehrbelliner Str.34.
Nach mehreren Arbeitsstellen in Frankfurt a.Main und Berlin, sowie der Ablegung
der Meisterprüfung im Graveurhandwerk, gründete er im Okt. 1933 einen eigenen
Graveurbetrieb. Zuerst in Premnitz, ab Aug. 1934 in Rathenow, Mittelstr.4.
Er hatte zuletzt fünf Mitarbeiter. Da er bereits im April 1940 zur Wehrmacht
eingezogen wurde,leitete meine Mutter den Betrieb bis zum Ende 1945.
Die Familie ist 1935 von Premnitz nach Rathenow in die Altstadt, Salzstr. 9 umgezogen.
Hier war die Welt des Gerhard Jonas in der Baustraßen-Kinderclicke.
In der Bauschule waren die ersten Jahre des Lernens angesagt.
Erst nach den Turbulenzen des Kriegsendes ist Rathenow wieder mein wichtigster
Lebensbereich geworden. Die Jahnschule (12 stufige Einheitsschule) absolviert mit Abschluß 9. und 10. Klasse.
Von April 1950 bis August 1952 Lehre als Werkzeugmacher im VEB Mewa Reißverschluss-
werk und mit Auszeichnung abgeschlossen.
Als Leiter der maritimen GST Gruppe im Betrieb, hatte ich mich öffentlich
mit dem Staat angelegt ( Aufstellung der kasernierten Volkspolizei ) und muste der Konsequenzen wegen, im Nov. 1952 die DDR verlassen.
Meine Eltern folgten mir 1955 nach und wurden in Esslingen a/Neckar ansässig.
In der BRD habe ich mehrere Berufstitel erhalten und war führend tätig.
1969 Gründung eines eigenen Metallbaubetriebes mit Schwerpunkt
Aluminium-und Glaskonstruktionen.
Die Großeltern Alma und Albert Schmidt lebten zur Zeit der Geburt meiner
Mutter in Rathenow. Das oft gemalte,zurückgesetzte Eckhaus – Salzstr. – Seitenbeutel, ist ihr Geburtsort. Ein weiterer Wohnort war das Haus Wasserpforte 9.
Der Großvater betrieb als Barbier und selbständiger Frisörmeister ein Frisörgeschäft.
Das Eckhaus im Winkel Steinstr.- Kirchgang war eine zeitlang das Ladengeschäft.
Wann und warum der Großvater das Geschäft aufgegeben hat ist nicht mehr bekannt.
Eine andere familiäre Verbindung reicht über meine Großmutter Alma zur
Malerin Anneliese Ibe. Sie ist meine Großcousine und Taufpatin.
Großeltern Jonas + Schmidt
Konrad Jonas - Emailliermeister
geb. 24.Nov. 1880 in Hagen / Westfalen
gest. 30.Nov. 1957 in Premnitz
Theresa, Ida, Berta Jonas, geb. Burghardt
geb. 11. Mai 1888 in Querfurt-Thaldorf
gest. 23. Sept.1966 in Premnitz
Heirat 30. April 1907 in Berlin
Albert Schmidt Barbier + selbständiger Frisörmeister
geb. 30. April 1875 in Premnitz
gest. 02. Jan. 1946 in Premnitz
Alma Schmidt, geb. Ziemann
geb. 04. April 1881 in Garz / Havel
gest. 16. April 1913 in Rathenow
Heirat warscheinlich 1907 in Premnitz
Kinder Jonas
Willibald,Peter Jonas Zieseleur + selbständiger Graveurmeister
geb. 06. Juli 1907 in Berlin
gest.14.Mai 1997 in Esslingen
Heirat 07.Jan 1933 in Premnitz
Elisabeth,Alma Jonas, geb. Schmidt Kontoristin
geb. 16.Jan.1909 in Rathenow
gest. 02.Nov.1999 in Esslingen
Sohn
Gerhard,Willibald,Peter Jonas Mechaniker-Metallbaumeister
geb. 01.Jan. 1934 in Premnitz
Heirat 17.Aug. 1957 in Esslingen
Margot Jonas geb. Mack kaufmännische Angestellte
geb. 24. Feb. 1934 in Ebersbach/Fils
gest.16. März 2008 in Göppingen
Sohn
Peter Jonas Industriekaufmann
geb. 14. Dez. 1943 in Rathenow
Eltern von Margot
Anna,Katharina Sikora geb. Mack Weberin
geb. 14. Juli 1903 in Ebersbach/Fils
gest.09. Feb.1965 in Oberesslingen
August Friedel Musiklehrer in Ebersbach
keine Daten bekannt
im Krieg verschollen
Eltern von Anna Sikora
Gottlieb Mack, Weber
geb. 31. Dez. 1878 in Laichingen
gest. 1958 in Ebersbach/Fils
Anna Mack geb. Bächtle,
geb. 06. Jan. 1878 in Laichingen ?
gest. 1952 in Ebersbach/Fils
Gerhard Jonas geb. 01.01.1934
Erinnerungen eines Zeitzeugen
an das Kriegsende April-Mai 1945 in Rathenow
Meine Enkelin Sina hat mich Anfang Mai 2019 befragt,wie war das zu dieser Zeit? Ich soll doch mal
alles aufschreiben. Die damaligen Ereignisse, welche ich als 11 jähriger Junge erlebte, sind in meinem Gedächtnis noch so präsent, als wären sie erst vor kurzem passiert. Februar1945 stand die Rote Arme am östlichen Oderufer und hatte Ende März - Anfang April den Fluß, nach schweren Kämpfen und zehntausenden Toten beider Seiten, überquert.
Ich kann mich nicht erinnern, daß die Menschen des kommenden Kriegsgeschehens wegen,
panisch oder mit Flucht reagierten. Einige allerdings schon.Die Familie meines Freundes Werner.
Sie hatte sich rechtzeitig nach Bayern abgesetzt. Der Vater war der ranghöchste SS-Offizier der Stadt. Die Bewohner des 13 Familienhauses in der Altstadt, Ecke Salzstr. 9 - große Baustr., blieben fast alle bis zum 04. Mai im Haus. Das Leben lief eigentlich ziemlich normal ab, allerdings ohne Strom und Gas.
Um auch kochen zu können, hatte ich mit dem Handwagen einen kleinen Holzofen von den Großeltern in Premnitz geholt.
Wegen der bereits schlechten Versorgung, wurde jede Möglichkeit genutzt etwas zu ergattern.
Auch ich war dabei als das Marinearsenal hinter dem Nordbahnhof geplündert wurde.
Rindfleischdosen,Kaffe,Zucker,Kondensmilch,Schokolade waren begehrte Artikel.
Die Menschen, auch wir, dachten wohl, daß in 10 Tagen alles vorbei wäre. Ende des Krieges.
Meine Mutter bügelte am 24.April in der Küche noch sorgsam ihre Wäsche. Ich saß daneben
und kreuzte in meinem Märklinkatalog die Gegenstände an, Loks,Wagen,Schienen,usw.die ich dann
nach dem Krieg kaufen wollte.
Es kam aber anders.
Hier in Rathenow gibt es auf ca 80 km zwischen Brandenburg und Havelberg die einzigen Straßenbrücken über die untere Havel.
Die Stadt wurde deshalb zur Festung erklärt, um der Roten Arme den Übergang über die
Havel zu erschweren. Es wollten sich möglichts viele deutsche Einheiten bis an die Elbe zu den
Amerikanern zurückziehen, um nicht in sowjetische Gefangenschaft zu kommen.
Am nächsten Tag,den 25.April, standen die ersten sowjetischen Einheiten am Ostrand der Stadt und die Kämpfe begannen.
Unser Leben wurde in den Keller verlegt.
Ein großer Vorraum nach der Kellertreppe, der anschließende lange Kellergang und der tieferliegende Luftschutz-Keller, ein ehemaliger Brauerei-Eiskeller, waren nun der Lebensraum der Hausgemeinschaft. Die Erwachsenen schliefen im Luftschutz-Keller auf Matratzen und Sesseln.
Wir drei großen Kinder hatten uns in einer alten Gewölbenische ein Lager eingerichtet.
Mein kleiner Bruder Peter, 11/2 Jahre alt, existierte im Kinderwagen und wuselte im Keller rum.
Er konnte schon laufen.
Am Ende des Ganges gab es sogar ein WC und die Waschküche mit Herd und Wasserpumpe.
Dort konnte gekocht und etwas für die Hygiene getan werden.
Das Leben lief in unserem Haus, gegenüber anderen Gebieten der Altstadt, noch komfortabel ab.
Die Neustadt, wie wir das Stadtgebiet ohne die Altstadt nannten, wurde trotz heftiger Gegenwehr 2 deutscher Resteinheiten schnell von den sowjetischen Truppen eingenommen.
Die Altstadt dagegen konnte bis zum 4.Mai verteidigt werden. Sie ist nämlich allseitig von Havel-
armen - Schleusenhavel und Mühlenhavel – umschlossen und war zum großen Teil noch von der
alten Stadtmauer umrundet. Die beiden einzigen Brückenzugänge – Schleusenbrücke und Jederitzer-
brücke, sind durch davorliegende Panzersperren geschützt worden.
Unser großes Wohnhaus hatte von der Baustr. her eine Durchfahrt in den Innenhof. Dieser zog sich hinter anderen Gebäuden an der Baustr. bis zur zweiten Einfahrt entlang. Die andere Hofseite wurde
durch ein Werkstattgebäude sowie Schuppen und Stallgebäuden gebildet.
Dieser Hof lag günstig fast in der Mitte der Altstadt und war von Osten nicht einsehbar.
Hier konnten wir zeitweise raus zum Luftschnappen.
Die Wohnung neben der Durchfahrt und der Hof ist als Kompanie-Befehlsstand genutzt geworden.
Ein junger, noch ganz der NS Idiologie anhängender, Leutnant hatte dort das Sagen.
Zum Glück waren aber nie schwarze SS-Uniformen zu sehen.
Soldaten kamen und gingen. Sie sahen müde und erschöpft aus ,einige waren verwundet. An der
Gebäudemauer saß eine zeitlang ein Soldat der schon stark nach Wundbrand roch. Ihm fehlte ein Bein. Er wird es nicht überlebt haben.
An der Hauswand lehnten Panzerfäuste und Karabiner. Munitionskisten und anderes Kriegsgerät lagerte dort.
In den Gängen der Innenhöfe und Gärten zwischen Steinstr.und Baustr. kannten wir Jungs uns
sehr gut aus. Durch diese haben wir einmal, zusammen mit einem Soldaten, Panzerfäuste
und Munitionskisten bis hinter die Altstätische Apotheke zur Frontlinie gebracht.
Der Kampflärm ebte auf und ab. Mal war es längere Zeit seltsam ruhig, dann wieder sehr heftige
Schießerei. Wer gerade auf dem Hof zum Luftschnappen war, lief schnellstens in den Keller.
Die Ostseite des Gebäudeteils an der Salzstr. war ab dem ersten Stockwerk aufwärts übersät von Einschlägen. Der Aufenthalt in den oberen Wohnungen, unserer Küche, war lebensgefährlich.
Zum Glück hatte die Rote Arme noch keine schweren Waffen an die Frontlinie schaffen können.
Lediglich mit schweren Granatwerfern und den Raketen der Stalinorgel schossen sie in die Altstadt.
Eines dieser Raketengeschosse traf in der Salzstr. in dem gegenüberliegenden Haus den Kellerfensterschacht und explodierte dort. Eine Frau (?)im Keller war tot. Unser Hauswirt stand gerade in unserem Hauseingang und wurde durch Splitter stark verletzt. Mehrfach trafen Granaten unser
Haus. Im Ostgiebel klaffte ein zimmergroßes Loch. Einige der großen Kamine sind zusammengebrochen und runtergestürzt. Als ein Kamin, der bis in den Luftschutzkeller reichte, getroffenwurde, sprengte die Druckwelle die Revisionsklappe weg. Ruß und Staub füllten den Keller. Keine Sicht mehr und atmen war unmöglich. Alle flüchteten nach Draußen. Ich hatte große Angst verschüttet zu werden. Als ich anderntags in unserem Keller das Silberbesteck meiner Eltern hinter Holzscheiten verstecken will, explodiert direkt vor dem Kellerfenster in ca.zwei Meter Abstand eine Granate. Ich stand zum Glück im Schutz des Holzverbaues, welcher das Fenster größtenteils abdeckte. Ein Stahlsplitter traf unterhalb vom Hals mein Schlüsselbein. Diese Stelle ist noch heute sichtbar. Meiner Mutter habe ich davon nichts gesagt. Ich hätte sonst nicht mehr aus dem Luftschutzkeller raus dürfen.
Eine kritische Situation war der Brand des Lagerhauses vom Eisenwarenhandel Schlegelmilch
an der südlichen Steinstraßenseite. Große Mengen brennender Holzwollballen flogen in unsere
Richtung. Sie landeten auf den Teerpappendächern des Werkstattgebäudes und der Schuppen.
Alle fähigen Hausbewohner gingen auf die Dächer und löschten mit Feuerpatschen.
Ich durfte nur helfen Wasser auf den Hof zu tragen. Es ist gut ausgegangen.
Ein richtig großes spektakuläres Feuer war der Brand der Kirche. Der Kirchturm sah aus wie eine
riesige Fackel.Die Turmspitze mit Kugel war bereits eingestürtzt. Aus dem Turmschaft sprühte
ein Funkenfeuer zig Meter in die Höhe. Vom Hauseingang an der Salzstr. konnten wir das Geschehen 3 beobachten. An welschem Tag es geschah, weis ich nicht mehr, aber es war noch vor dem 4ten Mai.
Es wurde davon gesprochen, weil angeblich ein deutscher Beobachter in der Turmkugel wäre, hätten die Russen die Kirche beschossen.
Mir fremde Stadtbewohner, Frauen mit Kindern und ältere Menschen, hatten in unserem Haus
Schutz gesucht. Sie saßen im Kellervorraum an den Wänden auf dem Boden. Sie hatten kaum
Sachen dabei, auch nichts essbares und waren sehr verängstigt. Unsere Hauswirtin verteilte in dieser Situation kleine Schriftstücke auf denen zu lesen war:
Die Arme Wenk kommt und wird uns befreien. Eine Wunderwaffe (Atom) unseres Führers
Adolf Hitler wird uns demnächst den Endsieg erringen lassen.
Mein älterer Freund Werner hat mir den Text vorgelesen und versuchte anhand eines Aluminiumtopfes mir zu erklären, was ein Atom ist. Ich habe nichts verstanden.
Es war wahrscheinlich der 3te Mai vormittags. Ich wollte vom Luftschnappen wieder ins Haus.
Hinter der Hofeingangstür waren mehrere Leute. Zwei Männer in Zivilkleidung saßen auf der
nach oben gehenden Treppe. Sie sahen richtig fertig aus. Deserteure, die sich absetzen wollten?
In diesem Moment kamen zwei Kettenhunde (Feldjäger). Eine heftige Auseinandersetzung
erfolgte und beide wurden abgeführt. Erst jetzt konnte ich ins Haus gehen.
Später wurde erzählt, einer der beiden Männer ist von dem Standort- Leutnant erschossen worden.
Dieser kam bald danach durch einen ungeklärten Schusswechsel zu Tode. Erschossen von deutschen
Soldaten ? Nur ein Gerücht ?
4ter Mai - Unsere Hauswirtin will aus der Stadt raus, um ihren Mann, der bei dem Raketeneinschlag verletzt wurde, zu suchen. Die Sanitäter hatten ihn auf unserem Handwagen in Richtung Westen mitgenommen.
Durch die Nähe des Kompanie-Befehlsstandes war der Hausgemeinschaft bekannt, daß die deutsche Wehrmacht die Stadt am Abend um 23 Uhr verlassen wird.
Die Hausgemeinschaft will nicht bleiben. Alle haben Angst, was passiert wenn die Rote Arme
die Stadt besetzt? Es wurden schlimme Horrorgeschichten erzählt. Jeder sucht tagsüber während einer Kampfpause die wichtigen und notwendigenDinge zusammen.
Unser Handwagen ist inzwischen wieder zurückgebracht worden. Er wurde mit dem Notwendigstem beladen. Den mußte ich ziehen. Meine Mutter hatte den Kindersitz vor die Lenkstange ihres Fahrrades montiert. Darin saß mein Bruder. Eine Tasche noch auf dem Gepäckträger festgezurrt. So zogen wir,die ganze Hausgemeinschaft,zusammen um 22 Uhr los.
Auf unserem Weg aus der Stadt hinaus – Baustr.-Salzstr.-Marktplatz-Havelstr.- sahen die Gebäude
noch intakt aus. Es lag nicht viel Schutt auf den Straßen. Ich zog den Handwagen mühelos.
Zu dieser Zeit habe ich weder weder Soldaten noch andere Stadtbewohner, auch kein Feuer gesehen. Nur das E-Werk am Ende der Ziegelstr.am Stadtkanal brannte mit einem riesigen Feuerschein schon einigeZeit.
Unser Trupp zog in die Nacht hinein -- Neue Schleuse – Steckelsdorf – Buckow.
Die Meisten schoben ihre beladenen Fahrräder. Meine Mutter und ich zuckelten als Letzte mit Abstand hinterher. Andere Flüchtende waren nicht zu sehen.
Der Blick zur Stadt zurück, ca 2-3 Uhr, zeigte was gerade passiert. Ein riesiger roter Feuerschein erhellte den Himmel. Die Altstadt brennt.
Zurückgebliebene Stadtbewohner erzählten uns später: Rotarmisten hätten mit Flammenwerfern
in die Keller-und Erdgeschossfenster reingehalten.
In der Gegend bei Buckow verläuft die Straße am Wald entlang. Plötzlich ein Anruf aus dem Wald 4
- Stehenbleiben-
Zwei 2cm Vierling-Flugabwehrgeschütze schießen mit Leuchtspurmunition Richtung Rathenow.
Nach diesem Geschehen laufen wir weiter und treffen im nächsten Dorf wieder auf unsere Gruppe.
Hier hofften wir ausruhen zu können, wurden aber abgewiesen und musten weiterlaufen.
Jetzt zerfiel die Gruppe. Einige sind wieder zurückgegangen. Die Hauswirtin wollte weiter gehen um ihren verletzten Mann zu suchen. Es wurde langsam hell. Wir zogen weiter. Meine Mutter mit Fahrrad und Bruder Peter, ich immer noch mit Handwagen. Der Weg führte in den Wald.
Durch ausgefahrene, schlammige Waldwege schleppte ich den Handwagen. Aus Angst vor den
Russen, muß ich dort unmenschliche Kräfte aufgebracht haben.
Überall weggeworfenes Kriegsgerät, umgekippte Fahrzeuge und Panzerfäuste lagen im Graben.
Ab hier setzt mein Gedächtnis aus. Absolut keine Erinnerung an irgendein Geschehen.
Wo haben wir geschlafen, was haben wir gegessen, wo sind wir gelaufen? Wie hat meine Mutter
den kleinen Bruder Peter versorgt?
Waren andere Menschen bei uns?
Erst ab dem Vormittag des 7. Mai funktionierte mein Gedächtnis wieder.
Wir drei sind allein, niemand ist in unserer Nähe zu sehen.
Auf einer richtigen Straße, die nach den Orten Wust und Fischbeck führt, kommen wir aus dem Wald.
In einiger Entfernung sehen wir links und rechts der Straße jeweils zwei schwere Geschütze stehen.
Wir kommen näher und werden von einem mitten auf der Straße stehenden Offizier aufgefordert:
"Stehenbleiben-Deckung" - dann der Befehl "Feuer"- Die Batterie schoss mit einem Donnerschlag
über uns hinweg in Richtung Rathenow. Dann durften wir weiterlaufen.
Am Nachmittag kommen wir in Fischbeck an. Überall stehen verlassene Militärfahrzeuge.
Wir finden in der Scheune eines großen Bauernhofes eine Schlafstelle im Stroh.
Überall Soldaten, sie sitzen oder liegen in den Räumen rum. Viele sind betrunken.
Ein Soldat sagt zu mir- Junge trink - und bietet mir eine Feldflasche mit Rum an –
dann merkst Du nicht wie schlimm es wird. Sie alle warten auf das Ende. Russische Gefangenschaft.
Meine Mutter versorgte den Bruder zum ersten Mal wieder richtig. Sie hatte irgendwo etwas
Milch aufgetrieben. Ich stromerte durch den Ort und untersuchte die Fahrzeuge. Es war aber nichts
Begehrenswertes mehr zu finden. Nur viele Schweinefleischkonserven lagen noch umher.
Etwas Dosenbrot und eine übersehene Kolaschokolade waren aber doch noch etwas.
Ein Offizier gab mir sein Fernglas, ein Oberst mit Ritterkreuz seine Offizierspistole mit den Worten:
vielleicht kannst Du sie noch gebrauchen.
An der Scheunenwand hatten Soldaten eine Feuerstelle aus Backsteinen zum Kochen eingerichtet.
Das Feuer glimmte noch. Ich warf eine Kartusche Leuchtmunition hinein. Mit einem Knall schoss
die grüne Leuchtkugel über den Hof und klatschte an die Wand des Haupthauses. Hatte Angst,
aber es ist nichts passiert. Es interessierte auch niemanden mehr
In der Nacht zum 8.Mai konnten wir richtig ausschlafen.
Am Morgen hörte man schon Schüsse von der nahenden Front.
Meine Mutter wollte zurückgehen. Ich hatte Angst. Wir Kinder waren so sehr indoktriniert
mit der Aussage: die Bolschewiken bringen uns alle um.
Ich sagte zu meiner Mutter, wenn Du zurückgehst, erschieße ich mich.
Kurz darauf ging ich ihr nach auf die Straße. Dort saß ein höherer Offizier mit roten Hosenstreifen,
wahrscheinlich ein General, auf einer Bank. Sie stand neben ihm und hörte zu.
Er sagte zu ihr: in ein paar Stunden ist alles vorbei. Gehen Sie nicht zur gesprengten Brücke.
Dort warten zigtausende Menschen und die Amerikaner lassen niemand mehr über den Notsteg 5
nach Tangermünde rüber. Gehen Sie nach Süden an die Elbe, vielleicht finden Sie da noch ein Floß.
Nach dieser Ansage packten wir unsere Sachen und zogen los.
Meine Mutter wieder mit Fahrrad und dem Kleinen, ich als Zugpferd vor dem Handwagen.
Bis zum späten Nachmittag schaften wir es über zerfahrene, verschlammte Feldwege auf den
Elbdeich südlich von Fischbeck und Tangermünde. Es lagen Holz-Dielenreste von Floßbauten umher.
Etwas weiter lag ein Floß im Wasser. Gebaut aus leeren Ölfässern und Dielen.
Soldaten und eine Bauernfamilie waren gerade beim Beladen mit verschiedenen Behältnissen. Sie wollten uns nicht mitnehmen. Das Floß wäre zu klein für soviele Menschen.
Nach eindringlichem bitten durften wir aber doch auf das Floß und mit übersetzen.
Aber ohne die Sachen vom Handwagen. Nur zwei Taschen mit Kleidung für Bruder Peter und sonstigen
wichtigen Dingen waren gestattet. Das Floß war überladen. Zwei Soldaten ruderten mit langen Stangen. Wenn sie sich dabei bewegten schwappte Wasser über die Dielen und die eine oder andere Ecke tauchte unter. Zum Glück führte die Elbe kein Hochwasser mehr und die Strömung war normal.
Ungefähr 250m flußabwärts sind wir am westlichen Ufer an einer Wiese angelandet.
Das südliche Tor der Tangermünder Altstadt war in einem knappen Kilometer Entfernung zu sehen.
Meine Mutter legte Bruder Peter auf ein Tuch am Boden und sagte: pass auf ihn auf, ich will sehen
wie es weitergeht, und ging fort. Sie kam und kam nicht zurück.Was mache ich mit dem Kleinen. Er nörgelte und weinte - Windeln voll und Hunger. Das konnte ich aber versorgen. Von der Elbe her, hörte ich MG-Feuer. Kurz darauf kam unsere Mutter.
Sie war tatsächlich mit anderen Leuten per Floß an das Ostufer übergesetzt um doch noch einige
wertvolle Gegenstände zu retten. Aber zu spät. Plünderer hatten schon den Handwagen mit den meisten Sachen mitgenommen. Bei der Rückfahrt zum Westufer stand plötzlich ein sowjetischer
T34 Panzer auf dem Deich und schoß mit seinem MG auf das Floß. Niemand wurde getroffen.
Diese Aktion der Mutter hätte aber auch richtig schlimm ausgehen können.
Wir haben Glück gehabt im letzten Moment das Westufer der Elbe zu erreichen.
Was mit den zigtausenden Soldaten und Flüchtlingen an der Brücke geschehen ist, habe ich erst
später durch Berichte Anderer erfahren.
Sie nahm den Kleinen auf den Arm, ich griff die beiden Taschen und wir marschierten Richtung
Tangermünde. Es war fast schon dunkel. Hinter uns habe ich niemand mehr von der Elbe kommend gesehen. Überall standen Wachen mit der MP im Anschlag. Vor dem Tor stand ein langer Tisch an der Straße. Dahinter saßen einige Amerikaner in Uniform. Von diesen wurden wir befragt und registriert.
Da unsere Mutter die Adresse der Familie Sabinat in Tangermünde kannte, wollte sie dorthin.
Das sind die Eltern und Geschwister ihrer Freundin Anni Blume. Ein amerikanisches Kommando
begleitete uns. Wir durften jedoch nur eine Nacht bleiben. Die Familie hat uns gut versorgt
und es war schön endlich mal richtig schlafen können.
Spät am Abend erfolgte im Radio die Nachricht von Kapitulation und Ende des Kriegs.
Ich hatte noch immer das Fernglas und die Offizierspistole.
Durch einen dummen Zufall wurde das bekannt. Aus Angst vor den Amerikanern wurde die
Familie Sabinat sehr unfreundlich. Erst als ich beide Teile im Plumpsklo versenkt hatte, war die Welt
wieder in Ordnung.
Am nächsten frühen Morgen hieß es einfinden an einem Sammelplatz.
Dort standen mehrere luftbereifte Anhänger. Als Zugmaschine ein 2er Pferdegespann mit Kutscher.
Die Amerikaner verteilten je 15-20 Menschen auf den Fahrzeugen und schickten sie in Richtung Westen fort. Sie sollten sich in den Dörfern selbst eine erste Bleibe suchen.
Einige hatten ziemlich viel Gepäck dabei, andere wie wir, auch nur einen Koffer oder Tasche.
Nach vielen Stunden und mehreren Dörfern war nur unser Fuhrwerk noch unterwegs.
Nirgendwo wollten sie uns aufnehmen. Der Kutscher will umkehren. Seine Pferde müssen nach 6
dieser Tagestour versorgt werden und ausruhen, sonst machen sie schlapp. Also zurück.
Am frühen Abend sind wir ca 10km westlich von Stendal in dem kleinen Ort Gohre angekommen.
Die Pferde wollen nicht mehr. Wir müssen hier übernachten. Alle weisen uns ab.
In dem Ort war ein ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter als Bürgermeister eingesetzt worden.
Dieser verständigte sich mit den Amerikanern und schilderte die Situation.
Darauf suchte ein amerikanischer Sergant mit ihm verschiedene Häuser auf und beschlagnahmte alle leerstehende Zimmer. Wir bekamen im teilweise ausgebauten Dachboden eines kleinen Doppelhauses einen kleinen Raum mit Fenster. Den Nebenraum bezog ein älterer Mann mit seiner Tochter. Sie musten immer bei uns durch. Am nächsten Tag wurden die nötigsten Dinge beschafft.
Als Bett diente ein zusammengenagelter Bretterrahmen auf dem Boden. Eine Strohschüttung ersetzte
die Matratze. Mehrere Obstkisten wurden zu Tisch, Sitzen und Regal umfunktioniert.
Mit diesem Luxus lebten die 14 Menschen von unserem Fuhrwerk erst einmal in dem kleinen
Doppelhaus. In dem rückseitigen Stallhaus befand sich eine große Waschküche mit Kessel und weiteren Kochstellen, sowie eine Wasserpumpe. Hier wurde etwas für die Hygiene getan, gekocht und gelebt. In dieser Enge ohne Intimsphäre war Rücksichtnahme und Absprachen mit den jeweils Anderen
das Allerwichtigste. Ich kann mich nicht erinnern, daß es jemals ernsthafte Differenzen gab. Viele Dinge
wurden gemeinsam erledigt. Esbares,Kleidung,Papiere besorgen,kochen, Zuckerrübensirup herstellen.
Die Menschen hatten auf ihrer Flucht zuviel erlebt und waren zufrieden, daß es für sie, gegenüber Anderen, so gut ausgegangen ist.
Nach und nach normalisierte sich das Leben. Wir hatten wieder einige Kleidungsstücke und für den
Kleinen einen Sportkinderwagen. Auch notwendige Lebensmittel bekam die Flüchtlingsgruppe.
Woher weis ich nicht. Vielleicht gekauft? Die Reichsmarkt war ja noch gültig.
Die amerikanischen Truppen bemühten sich, eine einigermaßen funktionierende Verwaltung
wieder herzustellen. Anfang Juni übernahm dann die sowjetische Arme das Gebiet.
Des Öfteren war ein 10 km Fußmarsch nach Stendal erforderlich. Registrierung und Papiere.
Die Erinnerung an die schlimmen Tage der letzten Wochen verblassen. Normales Leben kehrt zurück.
Copyright: Dr. Heinz-Walter Knackmuß, 15.11.2021