60-Landin-Dorothea Wiedmaier findet eine neue Heimat in Landin 01.02.2022
Dorothea Bossert (links) mit ihrer Schwester Lydia
1929 in Strassburg (Bessarabien)
Dorothea Bossert wurde am 12.04.1889 in Strassburg in Bessarabien geboren. Bessarabien liegt zwischen zwei Flüssen, Brut und Dnjestr, am nordwestlichen Ufer des Schwarzen Meeres. Strassburg lag 15 km südöstlich von der Stadt Akkerman an dem Flüsschen Alkalia, das 30 km südlich von Strassburg ins Schwarze Meer mündete. Der Vater, Jakob Bossert, hatte eine Tischlerei und die Mutter, Dorothea Bossert, geborene Treichel, war Hausfrau. Dorothea und Jakob Bossert hatte elf Kinder und wohnte in einem mit Schilf gedeckten Haus. Als ihr Vater starb, wurde er vor dem Haus in einen Sarg offen aufgebahrt. Alle Mitglieder der Familie versammelten sich um den Sarg vor dem Haus.
Großvater Jakob Bossert vor dem Wohnhaus der Familie Bossert
in Strassburg (Bessarabien)
Die Tochter Dorothea Bossert heiratete in Strassburg den Tischler Johann Wiedmaier. Dem Ehepaar wurden elf Kinder geschenkt. Fünf Kinder starben aber schon früh an Kinderkrankheiten und anderen Infektionen. Die sechs überlebenden Kinder waren:
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Anna Maier, geboren Wiedmaier (*29.11.1919 - † 29.04.2020)
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Arthur Wiedmaier (*04.04.1922 – †21.02.2017)
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Friedrich Wiedmaier (*09.09.1924 – †16.12.2016)
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Hugo Wiedmaier (*05.01.1928 – † 05.08.2010)
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Leonide Wellhausen, geborene Wiedmaier (*06.04.1930 – †13.02.1999)
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Pauline Reschke, geborene Wiedmaier (*19.05.1935 – †14.07.2019)
Bessarabien gehörte bis 1940 zu Rumänien
Der Landstrich Bessarabien hat seinen Namen vom Walachischen Fürstenhaus Besarab. Nach dem Aussterben des ungarischen Herrschergeschlechts der Árpáden nutze 1301 der Fürst Besarab I. die Chance ein eigenes Fürstentum, die Walachai (Rumänien), zu gründen, das von den Südkarpaten bis zum Schwarzen Meer reichte. Bessarabien war immer ein Zankapfel zwischen Russland, Österreich und der Türkei. 1812 trat das Fürstentum Moldau Bessarabien an Russland ab und nun gehörte das Gebiet als Gouvernement Bessarabien zum Russischen Zarenreich. Zar Alexander I. von Russland holte 1813 deutsche Kolonisten ins Land, die als selbstständige Landwirte auf eigenem Land leben durften und große Privilegien erhielten. 9000 eingewanderte Personen wohnten in 24 Kolonien. Die Kolonien wuchsen in den folgenden Jahren auf 150 Orte mit 93000 Menschen an. Die Hauptstadt von Bessarabien ist Kischinew. Die meisten Deutschen lebten um die Stadt Akkerman herum. Dorothea Wiedmaiers Vorfahren kamen als Einwanderer aus Schwaben nach Bessarabien. Als deutsche Kolonisten haben sie trotz großer Mühsal und Entbehrungen das Land urbar gemacht und gemeinsam mit den anderen Einwanderern im Laufe der Zeit die Kultur dort geprägt. Die Familien hatten viele Kinder und führten ein einfaches, naturverbundenes und religiöses Leben. Strassburg war ein größeres Dorf. Hier gab es sogar eine Schule. Die Kinder gingen am Vormittag zur Schule und am Nachmittag mussten sie den Eltern in der Landwirtschaft helfen. Jede Hand wurde gebraucht. Ob Sommer oder Winter, es gab immer Arbeit in Hof, Stall, Garten oder auf dem Feld. Abends fielen sie todmüde ins Bett, selbst an den üblichen Gute-Nacht-Geschichten fand niemand mehr Interesse. Im Herbst begann die Weinlese, das Einmachen von Früchten, das Mosten und das Marmelade kochen. Im Winter dagegen blieb mehr Zeit für die Familie und besonders für die Kinder, es wurden Feste gefeiert und ein reges Vereinsleben gepflegt. Die vielen verschiedenen Familien lebten einträchtig miteinander und prägten auch die Sitten und Gebräuche der deutschen Siedler, die von 1814 bis 1940 Bessarabien als ihre Heimat annahmen. An den langen Winterabenden wurde viel gesungen, die Frauen und Mädchen schwatzten beim Handarbeiten, die Jungen tobten oder würfelten. Immer stand heißer Tee bereit und aus der Ofenröhre dufteten warmgehaltene Speisen. Die Kinder sehnten die Weihnachtszeit herbei und freuten sich auf das Christkind. Die Eltern und Großeltern und die größeren Kinder hatten mit den Vorbereitungen für das Festmahl der Großfamilie und den geladenen Gästen zu tun. Es wurde eine Gans und wenn möglich ein Schwein geschlachtet, Wurst gemacht, Speck und Schinken in den Rauch gehängt und Fleisch gepökelt. Auch die Weihnachtsbäckerei kam nicht zu kurz. Dorothea Wiedmaier konnte ausgezeichnet backen. Noch viele Jahre später hat sie ihren Enkelkindern „Ausstecherla, Pfeffernüßla, Lebküchla, Duchgdrehte“ …gebacken und die köstlichsten Bonbons der Welt zubereitet. Die Enkelkinder durften die Karamelmilch rühren und beim Schneiden der gehärteten Zuckermasse helfen. Früher, so erzählte sie, wurden die „Zuckerla“ eingewickelt und bis Weihnachten in der guten Stube neben anderem Naschwerk und den Plätzchen aufbewahrt, um dann alles auf dem bunten Teller zu verteilen. Diese seltenen Süßigkeiten bereiteten den Kindern die größte Freude, bisweilen fanden sich unter dem Christbaum auch kleine Geschenke, Selbstgestricktes, Holzspielzeug oder eine Stoffpuppe. 1918 wurde Bessarabien kurzzeitig unabhängig, danach gehörte es zu Rumänien.
Gutschki
Polen 1944
Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 sprach aber Bessarabien wieder der Sowjetunion zu und enthielt eine Klausel, dass alle Deutschen das Land zu verlassen hätten. So wurden ab 1940 die deutschstämmigen Bessarabier von den Nazis nach Polen umgesiedelt. So kamen Johann und Dorothea Wiedmaier nach Gutschki Kreis Warthbrücken im „Reichsgau“ Wartheland in Polen. Johann Wiedmaier erkannte die verbrecherische Absicht des Naziregimes sofort und meinte: „Wir sind für die Nazis Kanonenfutter.“ Ihren Weg nach Polen begleiteten Hunger, Krankheit und Tod. Viele Familien wurden auseinandergerissen. Nicht jeder überlebte diese Strapazen. Und es stand allen ein schwerer Neuanfang bevor.
Dorothea und Johann Wiedmaier
1945 musste die Familie ihren neuen Wohnort wieder verlassen und kam über Rhinow nach Landin. Dorothea Wiedmaier und ihr Mann Johann Wiedmaier wohnten mit ihren Kindern in ärmlichsten Verhältnissen im Wohnhaus für die Gutsarbeiter in Landin. Es ging in dieser Zeit um das Überleben. Als im September 1945 im Land Brandenburg die Bodenreform durchgeführt wurde, erhielten auch Johann und Dorothea Wiedmaier Land und die Gelegenheit ein Siedlungshaus in Landin in der Steinstr. 3 zu bauen. Direkt am Haus wurde der Stall angebaut, wie man das aus Bessarabien kannte. Aber für die Familie Wiedmaier war das auch Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie hatten wieder ein Ziel vor den Augen.
Dorothea Wiedmaier vor dem neu errichteten Haus
Landin, Steinstr. 3
Dorothea und Johann Wiedmaier musste zwar hart arbeiten, denn es war nicht leicht die achtköpfige Familie durchzubringen. Aber sie waren es gewöhnt, von früh bis spät auf den Beinen zu sein und die Kinder mussten im Stall und auf den Feldern und Wiesen immer mitarbeiten, das kannte man gar nicht anders. Die Kinder gingen natürlich in die Dorfschule und lernten tüchtig, was man so auf einer Dorfschule lernen kann.
So nach und nach verließen die Kinder das Haus. Leonide ging nach der Schule als Haushaltshilfe nach Nordrheinwestfalen und verliebte sich in einen jungen Mann. Seine Eltern wollten diese Verbindung nicht. Als sie schwanger wurde, trennte die Eltern ihren Sohn sofort von Leonide und schickten ihn weit fort, sodass Leonide nach Landin zurückkehrte und 09.09.1949 in Friesack ihre Tochter Renate zur Welt brachte. Die Großeltern Dorothea und Johann Wiedmaier freuten sich über die Enkelin und zogen sie mit viel Liebe auf. Ihr Motto war: Alle Kinder, wie sie kommen, sind willkommen. Und so konnte Leonide Wiedmaier ohne Sorge ihre Ausbildung als Kindergärtnerin in Schmalkalden absolvieren und kam nur an den Wochenenden nach Hause.
Kindergartenausbildung in Schmalkalden
Leonide Wiedmaier 1. Reihe 3. von links
Bei einem Familientreffen lernte Leonide Wiedmaier 1952 ihren zukünftigen Ehemann kennen. Die Familie lebte von 1956 -1961 in Johanngeorgenstadt im Erzgebirge.
Als Johann Wiedmaier am 21.11.1957 an Krebs starb, war seine Frau Dorothea schon im Rentenalter und beschloss zu ihrer Tochter Leonide nach Johanngeorgenstadt zu gehen. Die anderen Kinder Anna, Pauline, Fritz und Hugo gingen 1957 in den Westen. Ihr Sohn Arthur Wiedmaier lebte mit seiner Frau Christel noch bis 1960 in Landin in dem Siedlungshaus. Christel Wiedmaier war auch zeitweise Bürgermeisterin von Landin.
Siedlungshaus von Dorothea und Johann Wiedmaier 2021
Mit dem Umzug Leonides und deren Familie 1961 nach Berlin wurde auch Dorothea Wiedmaier Berlinerin. Sie fühlte sich ihrem Landin etwas näher und genoss die Ausflüge dorthin. Dorothea Wiedmaier beaufsichtigte, umsorgte und bekochte die Enkelkinder, während die berufstätigen Eltern außer Haus waren. Sie war schon über 70 Jahre alt, als sie nach Berlin kam und übernahm doch einen Großteil des Haushalts. Sie wurde die Chefin in der Küche. Während ihre Tochter arbeitete, verwöhnte sie die Enkelkinder täglich nach der Schule mit feinen, außergewöhnlichen Gerichten, die auch den Schulfreunden sehr mundeten und schon wegen ihrer Fremdartigkeit ihren besonderen Reiz für alle hatten. Ein herrlicher Duft empfing die Kinder, wenn sie die Wohnung betraten. Dorothea Wiedmaier erwartete die Enkel schon. Sie hatte ihre Schürze umgebunden und ein Geschirrtuch in den Händen und rief: „Schnell, schnell, damit das Essen nicht wird kalt“. Es gab Knöpfle und Kartoffelschnitz und andere köstliche Sachen. Noch heute läuft den Enkeln das Wasser im Munde zusammen, wenn sie an die Gerichte der Großmutter denken oder selbst zubereiten. Dorothea Wiedmaier hatte im Alter schlohweißes Haar, glatt zurückgestrichen und zu einem winzigen Dutt zusammengesteckt; hellbraune, offene Augen, ein liebevolles und gütiges Gesicht, das immer zartrosa leuchtete. Sie war eine kleine, lebhafte und freundliche Frau, in deren Nähe man sich einfach wohlfühlte. Das Leben hatte sie durch halb Europa nun nach Berlin geführt und ihr einen Schatz an Erfahrung und Lebensweisheit mitgegeben, den sie manchmal auch für ihre Enkelkinder öffnete.
Dorothea Wiedmaier mit Enkeln in Berlin
1963
Weil ihre Schwester Wilhelmine in einem Altenheim in der Schönhauser Allee lebte, ging sie 1972 gleichfalls dorthin. Sie bekam zwar reichlich Besuch, aber es war doch nicht die Familie, in der sie sich immer geborgen gefühlt hatte. So nahm sie 1973 das Angebot ihrer Tochter Anna Maier, geborenen Wiedmaier, an und zog zu ihr nach Vaihingen an der Enz in Baden-Württemberg. Am 27.08.1979 starb sie dort ganz ruhig im Schlaf mit 90 Jahren. So hatte sie sich das immer gewünscht. Sie hatte sich in Landin sehr wohl gefühlt. Durch ihre Herzlichkeit hatte sie bald enge Freundschaftsbande zu Ida Schill geknüpft. Zwölf aufregende Jahre durfte sie dort mit ihrem Mann Johann leben und einen Neuanfang nach dem furchtbaren Krieg wagen. Das war schön und für Dorothea Wiedmaier war es ein neues Glück in ihrem arbeitsreichen Leben.
© Dr. Heinz-Walter Knackmuß, 01.02.2022